Die wahre Werkself
Vor 120 Jahren gründeten die Leverkusener Farbenfabriken auf Wunsch der Belegschaft einen betriebseigenen Turnverein. Das Profifußball-Team, das gerade Deutscher Meister geworden ist, hat damit nicht mehr viel gemeinsam. Doch bis heute gibt es Bayer-Beschäftigte, die beim Kicken den Zusammenhalt stärken.
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In Zusammenhang mit den Profifußballern von Bayer 04 Leverkusen ist in dieser Saison häufig die Rede von den bösen Geistern der Vergangenheit, die nun mitsamt dem Spitznamen „Vizekusen“ von einer berauschend aufspielenden Mannschaft in die Unterwelt geschossen worden seien. Die Profifußballer, die jetzt die Deutsche Meisterschaft feiern können, sind dem Chemie- und Pharmakonzern weitgehend entwachsen. Den Begriff „Werkself“ tragen sie nur noch unscheinbar im Nacken ihres Trikots.
Ganz anders das Team aus rund zwanzig Bayer-Mitarbeitern, hin und wieder auch Mitarbeiterinnen, das sich einen Einwurf entfernt vom Leverkusener Bundesligastadion in einer Soccer-Halle regelmäßig zum Kicken trifft. Alle tragen die Trikots mit dem bekannten Bayerkreuz, gehalten von zwei Löwen, mit besonders breiter Brust. Denn darauf steht deutlich sichtbar in großen, schwarzen Buchstaben auf weißem Grund: „Werkself“. Es sind Kolleginnen und Kollegen, die nach der Arbeit oder vor der Nachtschicht gemeinsam Sport treiben und die der Fußball zusammenschweißt. Der Name auf der Brust ist also Programm.
Es sind Männer und Frauen wie jene, mit denen 1903 alles begann. Die einen Brief schrieben an die „Herren Betriebs- & Bureaubeamten“. Sie baten darin um Unterstützung zur Gründung eines werkseigenen Turnvereins. Friedrich Bayer junior, zweiter Firmenchef des 1863 gegründeten Unternehmens, und der damalige Direktor Carl Duisberg erklärten sich einverstanden. Und so wurde am 1. Juli 1904 der „Turn- und Spielverein der Farbenfabriken vorm. Friedrich Bayer & Co. in Leverkusen“, kurz TuS 04, gegründet. Drei Jahre später entstand die Fußballriege des Vereins. Nach Abspaltungen hier und Zusammenschlüssen dort sind daraus der heutige Fußballverein Bayer 04 Leverkusen und der umtriebige Sportverein TSV Bayer 04 Leverkusen mit unter anderem den Sparten Leichtathletik, Basketball, Handball und Behindertensport entstanden.
Gute Geister der Werkself
Eine Brücke zwischen Arbeits- und Privatleben
Einer der Mitarbeiter auf den Spuren jener, die das alles einst anschoben, ist Alessandro Lanzafame, Systemexperte im Logistikzentrum des Supply Center Leverkusen der Bayer Pharmaceuticals und seit mehr als zwanzig Jahren Organisator des Kicks unter Kolleginnen und Kollegen, genannt Fußballprojekt SC Lev (für Supply Center Leverkusen), das von der Standortleitung und dem Bayer-Gesundheitsmanagement unterstützt wird. Alessandro ist nicht mehr so wendig und schnell auf den Beinen, wie er es mal war. Nach einem Training könne er sich inzwischen meistens ein bis zwei Tage lang nicht mehr bewegen, erzählt der 49-Jährige schmunzelnd. Aber er bleibt dran. „Fußball ist für mich wie Atmen, es ist mein Leben.“ Und das Leben muss schließlich auch bei der Arbeit seinen Platz haben.
Fast alle hier haben eine Fußballvergangenheit, waren in Vereinen aktiv oder sind es noch immer. Das Spiel mit den Kolleginnen und Kollegen erleben sie als eine Brücke zwischen Privat- und Arbeitsleben, zwischen Hobby und Beruf, man tauscht sich über Abteilungsgrenzen hinaus aus. Mehmet Capar, 56 Jahre alt, Warehouse-Mitarbeiter bei Bayer Pharmaceuticals, hat in der Jugend bei Bayer 04 Leverkusen gekickt. Er sah die späteren Bundesligaspieler Knut Reinhardt und Bernd Dreher an sich vorbeiziehen. „Die sind viel weiter gekommen als ich“, sagt Mehmet. Das macht aber nichts. Der Fußball als Leidenschaft, als stetes Gesprächsthema, als Ort der Begegnung ist ihm geblieben.
Seine Passion teilt Mehmet mit rund 7,5 Millionen Menschen in Deutschland, die Mitglied in einem der mehr als 24.000 Fußballvereine des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) sind. Mehr als 135.300 Mannschaften nahmen laut DFB-Statistik 2023 am offiziellen Spielbetrieb teil. Dazu kommen all die Theken-, Hobby- und Betriebsteams wie das von Bayer Pharmaceuticals und ihre Turniere, bei denen es nicht um große Pokale, sondern um Sport, Spaß und die dritte Halbzeit geht, die ein kühles Getränk und anregende Gespräche unter Gleichgesinnten verspricht. Alessandro und seine Mannschaft reisen Jahr für Jahr zum sogenannten Pharma-Cup, bei dem sich die Firmenteams verschiedener Pharmaunternehmen treffen.
Fußball ist für mich wie Atmen.
Alessandro Lanzafame,
Organisator des Fußballprojekts SC Lev
Meistertitel schürt Fußball-Lust
„Man hat immer eine Gemeinsamkeit, darüber identifizieren wir uns“, sagt Martin Epure. Der 43-Jährige war früher beim SV Schlebusch – einem Stadtteilverein in Leverkusen – in der B-Jugend aktiv und spielte in dieser Altersklasse eine Saison in der Bundesliga. Außerdem bestritt er zwei Freundschaftsspiele mit der deutschen U-15-Nationalmannschaft. „Dann wird man älter, die Gelenke machen nicht mehr alles mit, vom Vereinsfußball geht es zu einer Thekenmannschaft, und irgendwann ist auch das schon zu viel“, erzählt Martin mit einem Zwinkern. Für das Fußballprojekt SC Lev reichen seine Kräfte noch. Und seine Begeisterung sowieso, besonders in dieser Saison, in der sich Bayer 04 am 29. Spieltag zum ersten Mal in der Klubgeschichte den nationalen Titel gesichert hat.
„Die Motivation bei uns in der Firma ist riesig“, sagt Alessandro, obwohl er Köln-Fan ist. „Durch den Meistertitel haben alle noch mehr Lust, Fußball zu spielen.“ Martin ist der Hardcore-Bayer-Fan im Pharmateam und sagt über die unterschiedlichen Vereinsvorlieben: „Das macht den Reiz aus. Aber Freundschaft geht über Vereinsliebe.“ Er kam 1990 aus Rumänien nach Leverkusen und sagt über seinen ersten Stadionbesuch: „Das war Liebe auf den ersten Blick.“ Eine entscheidende Rolle habe dabei der rumänische Nationalspieler Ioan Lupescu gespielt, der von 1990 bis 1996 für Bayer auflief. „Das war ein bekanntes Gesicht, ein bekannter Name, eine Verbindung“, sagt Martin.
Seit 1995 besitzt Martin eine Dauerkarte. Die Saison 2001/2002, als Bayer 04 die Meisterschaft verspielte und sowohl das DFB-Pokal- als auch das Champions-League-Finale verlor, nennt er „Traumajahr“. Und die aktuelle Saison? In der Bayer den Meistertitel schon nach dem 29. Spieltag sicher hatte, das Europa-League-Finale gegen Atalanta Bergamo verlor, um bereits kurz danach, das Endspiel um den DFB-Pokal zu gewinnen. „Das ist alles noch etwas surreal für mich“, sagt Martin. Beim Sieg über Bremen, als der Meistertitel endgültig klargemacht wurde, stürmte er mit Tausenden den Platz. „Ich bekomme immer noch Gänsehaut, wenn ich darüber rede“, erzählt er. „Ich bin noch in Trance, wir feiern jeden Tag.“
Stimmung in der BayArena lebt auf
Alessandro kann da nur staunen, als Anhänger des 1. FC Köln ist er in dieser Saison mal wieder besonders gebeutelt. Als Sohn eines Italieners schlägt sein Herz aber auch für Italien. Ein bisschen auch für Spanien, von dort stammt seine Mutter. Und für Polen, das Heimatland seiner Frau. „Für Deutschland kann ich leider nicht sein“, sagt er. Italien und Deutschland, das gehe im Fußball einfach nicht zusammen. Für Bayer 04 allerdings kann er sich freuen. „Ich finde es gut, dass Leverkusen die Meisterschaft gewonnen hat“, sagt Alessandro, „das ist für uns, unsere Stadt und auch für unseren Betrieb, dem es gerade nicht so gut geht, eine schöne Werbung.“
Bayer sei nun auf der ganzen Welt in aller Munde. Aus guten, sportlichen Gründen. Nicht mit dem milliardenschweren Kauf des umstrittenen amerikanischen Saatgut- und Unkrautvernichtungsmittel-Multis Monsanto und einem fallenden Aktienkurs. Die „Süddeutsche Zeitung“ schrieb unlängst von einem Einkauf „auf dem Transfermarkt für Großunternehmen, den die Fußballpresse geradewegs als Fehleinkauf und Riesenflop bezeichnen würde“.
Die Bayer-Welt steht kopf dieser Tage: Der Fußball brilliert, während der einstige Vorzeigekonzern in Schieflage geraten ist. Die IGBCE-Mitglieder Alessandro, Mehmet und Martin mutmaßen schon, dass es in nächster Zeit Zulauf geben werde, weil immer mehr Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter um ihre Arbeitsplätze fürchteten. Mit weiterem Zulauf beim Fußballprojekt darf auch gerechnet werden. Denn es steht ja noch die Europameisterschaft vom 14. Juni bis zum 14. Juli in Deutschland an. Und nichts schürt die Lust aufs Selberkicken mehr als tolle Spiele der Profis.
Martin wird dabei sein, er hat Tickets für das zweite und das dritte Gruppenspiel der Rumänen in Köln und in Frankfurt. Seine Urlaubstage sind in diesem Jahr ganz für Fußball reserviert, Frau und Tochter müssen ausnahmsweise mal allein Ferien machen. Allerdings glaubt Martin für sich nicht, dass die EM die Emotionen in den finalen Wochen der Leverkusener Vereinssaison toppen kann. Alessandro dagegen sagt: „Ich bin absolut heiß auf die EM.“ Mit Italien, Spanien und Polen habe er „drei Optionen“ im Rennen. Außerdem wolle er seinem knapp sechs Jahre alten Sohn den italienischen Fußball näherbringen: „Er soll endlich mal sehen, für wen er eigentlich ist.“ Und die ganze schillernde Kraft des Fußballs spüren.
Spielen nach der Arbeit
Der Betriebssport in Deutschland hat eine lange Tradition und ist eng mit der industriellen Entwicklung verbunden. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts förderten Unternehmen die ersten Werks-, Turn- und Sportvereine. Ziel damals wie heute: zufriedenere und gesündere Betriebsangehörige. Der Betriebssport entwickelte sich zu einem Bestandteil betrieblicher Sozialpolitik. Mit der Gründung der Interessengemeinschaft der Betriebssportgemeinschaften und -verbände der Bundesrepublik einschließlich Westberlins 1954 entstand erstmals eine Dachorganisation für den Betriebssport. In den Folgejahren stiegen die Mitgliederzahlen auf rund 60.000 an. Heute sind mehr als 198.000 Mitglieder aktiv. Die Interessengemeinschaft – seit 1998 umbenannt in Deutscher Betriebssportverband (DBSV) – engagiert sich im Gesundheits-, Freizeit- und Breitensport in rund neunzig verschiedenen Sportarten.