Arbeit & Gesellschaft

Kompass

„Ohne Druck passiert nichts“

Text Lars Ruzic – Illustration Eugen Schulz

„Female Empowerment in der Industrie: Auf dem Weg oder auf dem Abstellgleis?“ Der neue Kompass-Talk wagt den Realitätscheck: mit Diversity-Beraterin Tijen Onaran und dem IGBCE-Vorsitzenden Michael Vassiliadis.

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Frau Onaran, was heißt für Sie eigentlich Female Empowerment?

Tijen Onaran: Für mich ist das der Inbegriff von Emanzipation und Unabhängigkeit des Individuums. Es geht darum, dass wir nicht Frauen irgendwie fördern, weil man das tun muss, sondern dass sie systematisch bestärkt werden politisch, aber auch individuell. Wir Frauen müssen das auch selbst tun, um Gleichstellung, Geschlechtergerechtigkeit und ­Vielfalt ­voranzutreiben.

Foto: Muriel Liebmann (Focus)

Tijen Onaran, geboren 1985, ist Unternehmerin, Investorin, Bestsellerautorin und eine der wichtigsten Meinungsmacherinnen Deutschlands, wenn es um Diversität, Sichtbarkeit und Digitalisierung geht. Ihr Motto: „Diversität ist kein Trend. Diversität ist der Grundstein für den Erfolg eines Unternehmens!“ Das „Manager Magazin“ zählt sie zu den Top 100 der einflussreichsten Frauen der deutschen Wirtschaft. Seit 2023 ist die Politikwissenschaftlerin Jurorin bei der Vox-Sendung „Die Höhle der Löwen“.

Wie weit ist die Industrie bei dem Thema?

Onaran: Wir haben kein Erkenntnis-, wohl aber ein Umsetzungsproblem. Es gibt unzählige Studien da­rü­ber, dass diverse Teams einfach besser sind als nicht diverse. In den Vorständen widerspricht dem auch niemand. Aber es ist in den Herzen noch nicht angekommen. Die Unternehmensspitze muss davon wirklich überzeugt und intrinsisch motiviert sein, das Thema voranzutreiben. Nur wenn die Unternehmenskultur darauf angelegt ist, erzielt man nachhaltig Erfolge. Gerade in den aktuell krisenbehafteten Zeiten braucht es in den Unternehmen Meinungs- und Perspektivenvielfalt, um neue Ideen zu entwickeln.

Michael, in den Branchen der IGBCE sollte es aufgrund der hohen Tarifbindung, die gleichen Lohn für gleiche Arbeit sicherstellt, eigentlich keine Benachteiligung von Frauen geben. Wie erklärt sich dann, dass sich trotzdem viele weibliche Beschäftigte benachteiligt fühlen?

Michael Vassiliadis: Formal mag es keine erkennbaren Diskriminierungskontexte geben, in der Realität ergeben sie sich aber. In Fragen, wie man Frauen weiterentwickelt, wie man ihre Arbeit wertschätzt, in welche Rollen sie mitunter gedrängt werden Stichwort: Teilzeit. Das Ergebnis ist immer das gleiche: Die Frauen werden in der Karriereentwicklung dann nicht gefördert oder nicht gesehen, wenn es darauf ankommt, etwa im Alter zwischen dreißig und fünfzig Jahren.

Also alles hohle Sprüche?

Onaran: Ohne Druck passiert nichts und das ist schon traurig genug. Aber dieser Druck wächst. Etwa durch die neue Macht der Talente am Arbeitsmarkt. Für sie ist heute Diversität das wichtigste Kriterium bei der Arbeitgeberwahl. Auch Investoren und Kapitalgeber fordern von den Unternehmen in dieser Frage zunehmend klare Strategien. Und immer öfter werden die Vorstandsboni an Diversitätsziele gekoppelt. Das Thema muss behandelt werden wie jedes Budget-, Innovations- oder andere strategisch wichtige Thema einer Organisation auch. Und wir müssen ihm die Schwere nehmen. Wir brauchen ein innovatives Diversitätsverständnis, das den Gewinn an Kreativität und Krisenresilienz durch Vielfalt herausstellt.

Vassiliadis: Ja, da bewegt sich etwas. Und wir müssen jetzt aufpassen, dass das nicht eine Frage von Konjunktur ist und nur dann verfolgt wird, wenn wir irgendwie Zeit und Geld haben, und wieder verdrängt wird, wenn andere Probleme größer scheinen. Das sicherzustellen ist auch eine Aufgabe der Gewerkschaften. Denn es braucht schon den politischen Druck.

Wie können ­Gewerkschaften das Thema Diversity im Betrieb ­voranbringen?

Vassiliadis: Neben den klassischen Instrumenten wie der Frauen- und der Tarifpolitik müssen wir verstärkt unseren Einfluss dafür nutzen, die Strukturen in den Unternehmen zu verändern. Ein Instrument dafür ist die Quote. Ich bin dafür, sie stärker als strategisches Mittel einzusetzen. Ein Beispiel: Bei den Aufsichtsratsmandaten in den Dax- und M-Dax-Konzernen haben wir sie gegen viele Widerstände durchgesetzt und siehe da: Sie funktioniert, den Gremien hat das gutgetan. Aber es genügt eben nicht, nur zu quotieren. Man muss mit Männern reden, auf ihr Mandat zu verzichten, man muss Förderprogramme auflegen und Frauen in Position bringen. Das bedeutet Kampf gegen ein bestehendes Regime. Aber das ist ja seit jeher gewerkschaftliche Kernkompetenz.

Diversität muss in der Wirtschaft zur Selbstverständlichkeit werden.

Tijen Onaran,
Unternehmerin

Stichwort: Frauen in Vollzeit bringen. Ist das nur eine scheinheilige Forderung zur Bekämpfung des Fachkräftemangels oder steht dahinter ein echter Antrieb, Frauen zu stärken?

Onaran: Es ist ein Argument, das ich tatsächlich auch nutze. Der Zweck heiligt hier die Mittel. Langfristig muss das Ziel natürlich sein, dass wir solche Argumente nicht mehr brauchen, dass wir nicht mehr über Quoten oder Gender-Pay-Gap reden müssen. Diversität muss in der Wirtschaft zur Selbstverständlichkeit werden, zur coolen Party, an der man unbedingt teilnehmen möchte. Auch als Vorstand. Aber da bewegt sich durchaus etwas.

Vassiliadis: Sowohl im Management als auch in der politischen Führung gibt es ja inzwischen viele Beispiele, bei denen man positive Erfahrungen mit Frauen in Top-Positionen gesammelt hat. Wir sind also schon mal einen Schritt weiter. Wenn es in Unternehmen nicht funktioniert hat, lag es jedenfalls nicht an den Frauen.

Der IGBCE-Frauentag beschäftigt sich mit der Frage, wie man die Transformation in der Industrie geschlechtergerecht gestalten kann. Einerseits wird die Rolle der Frauen hier wichtiger, andererseits gibt es in einigen Milieus aber auch Rückfälle in veraltete Rollenbilder. Wie passt das zusammen?

Onaran: Tatsächlich nehme ich diesen Rückfall in einigen Bereichen ebenso wahr – übrigens auch bei Frauen. Auf Social Media sprießen die Kanäle mit Hausfraueninhalten nur so, und eine Vielzahl der Influencerinnen transportiert das Bild, wie toll und glamourös es doch ist, zu Hause zu bleiben und dem Mann den Rücken zu stärken. Das ist natürlich alles andere als hilfreich. Auch in den Unternehmen gibt es immer wieder Diskussionen nach dem Motto: Wollen die Frauen überhaupt Karriere machen? Oft getrieben von männlichen Managern, die ihr eigenes Privatleben auf die Allgemeinheit übertragen. Wir plädieren dann immer dafür, anekdotische Evidenz durch valide Daten zu ersetzen und die Karrierewünsche von weiblichen Beschäftigten im Unternehmen per Umfrage zu erheben. Da sehen die Ergebnisse dann schnell ganz anders aus.

Vassiliadis: Eine wichtige Rolle spielt hierbei der oder die eigene Partner oder Partnerin. Beispiel: Wir haben in der IGBCE gemischtgeschlechtliche Führungsduos eingeführt. Bei einer dezentralen Organisation wie der unseren kann Karriere auch Umzug bedeuten. Das müssen wir als Organisation natürlich bestmöglich unterstützen. Aber die Frauen müssen es eben auch in der Familie klären. Und da treffen wir häufig auf deutsche Realität. Denn meist arbeitet der Partner eben auch – und aus diesem Gefüge möchte man nicht ausbrechen.

Onaran: Das ist in der Tat ein total wichtiges Thema. Ich habe einmal den Satz geprägt: Augen auf bei der Partnerwahl. Das hat – neben viel Applaus – eine Welle der Entrüstung ausgelöst. Dabei sollte es doch mit Blick auf den eigenen Lebensentwurf eine Selbstverständlichkeit sein. Viele Frauen meinen, sie könnten es ihren Männern nicht zumuten, Teile der Care-Arbeit zu übernehmen oft trauen sie es ihnen übrigens auch nicht zu. Und deswegen sage ich den Menschen auch immer wieder: Ihr müsst das zu Hause diskutieren. Ihr müsst über Finanzen diskutieren, über Care-Arbeit, über Karriereplanung in der Partnerschaft.

Michael Vassiliadis, Moderatorin Lea Karrasch und Tijen Onaran im Kompass-Talk.

Foto: Lars Ruzic

Michael, im Industriebereich ist der Männeranteil traditionell hoch, und Gewerkschaften haben es vergleichsweise schwer, Frauen zu organisieren. Was müssen sie besser machen, um mehr Frauen als Mitglied zu gewinnen und damit auch Diversität in der Arbeitswelt voranzutreiben?

Vassiliadis: Zunächst mal ist entscheidend, den Frauenanteil in der Industrie insgesamt zu steigern. Warum das nötig ist, haben wir schon besprochen. In unseren Branchen liegt er derzeit bei etwa einem Viertel der Beschäftigten. Dann brauchen wir als Gewerkschaften moderne Dialog- und Serviceangebote für die Frauen, die sich an den spezifischen Lebenssituationen orientieren. Und wir müssen den Anteil der weiblichen Mitglieder in den Betriebsräten steigern. Bis heute gelingt es nicht immer, die Vorgaben des Betriebsverfassungsgesetzes zu erfüllen meistens, weil schlicht die weiblichen Kandidatinnen fehlen. Das ist ein wichtiger Impfkristall für gewerkschaftliches Engagement im Betrieb.

Die Wirtschaft hat noch einen weiten Weg vor sich.

Tijen Onaran,
Unternehmerin

Blicken wir zum Schluss zehn, zwanzig Jahre voraus: Was müssen wir tun, um bis dahin Geschlechtergerechtigkeit hergestellt zu haben?

Onaran: Wir brauchen eine Politik, die den Rahmen setzt für die gesellschaftspolitischen Themen unserer Zeit. Die Wirtschaft hat noch einen weiten Weg vor sich: Bislang haben wir unter vierzig Dax-Konzernen nur eine weibliche Vorstandsvorsitzende. Vor allem brauchen wir aber in der Gesellschaft mehr Eigenverantwortung in puncto Vielfalt und eine positive Erzählung. Ich bin Optimistin, und deswegen ist Female Empowerment für mich nicht auf dem absteigenden Ast, sondern wir haben erst Anlauf genommen.

Vassiliadis: Wir sind eine Gesellschaft, die älter wird. Wir brauchen jeden. Wenn wir nicht investieren in Diversität und Modernität, fallen wir zurück. Die Gewerkschaften, die auf dem Gebiet immer Vorreiter waren, müssen hier noch stärker als Treiber dieses Wandels ­auftreten.

IGBCE Kompass: Den neuen Polit-Talk mit Michael Vassiliadis und Gast kannst du in voller Länge nicht nur in der digitalen Ausgabe dieses Magazins sehen und hören, sondern auch über die „Meine IGBCE“-App, im Web bei igbce.de sowie auf dem Youtube-Kanal deiner Gewerkschaft und auf allen gängigen Podcast-Plattformen. Dort lässt er sich auch leicht abonnieren.