Arbeit & Gesellschaft

Hintergrundstory

Foto: Michael Heck

Zurück zum Optimismus

Text Lars Ruzic – Fotos Daniel Krist

Die massiven Preissteigerungen der jüngeren Vergangenheit haben in der Chemie die Tariferfolge eines ganzen Jahrzehnts aufgezehrt. Die Entlastung durch die Inflationsausgleichsprämie ist Vergangenheit. Längst spüren die Beschäftigten die Reallohnverluste, prägt Pessimismus das Bild. Mit der Forderungsempfehlung für die neue Tarifrunde will die IGBCE gegensteuern.

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Forderungsempfehlung Chemie 2024

Spring an die richtige Stelle

Britta Sorge,
Betriebsrätin, Evonik-Chemiepark in Marl

Es ist Druck auf dem Kessel. Die Beschäftigten in den IGBCE-Branchen spüren, wie sehr ihnen die Inflation der vergangenen zwei Jahre Löcher ins Portemonnaie gebrannt hat. Drei von vier müssen sich beim Haushaltsbudget einschränken. Eine Mehrheit von 55 Prozent beurteilt ihre persönliche wirtschaftliche Situation als schlechter als vor einem Jahr. Das hat die jüngste IGBCE-Umfrage unter Mitgliedern ergeben.

Britta Sorge bringt es auf den Punkt: „Die Preise sind davongaloppiert, gerade bei Lebensmitteln, Sprit oder Energie.“ Die Wirkung des eigens für die Krise geschaffenen Instruments der Inflationsausgleichsprämie habe Entlastung gebracht, aber eben nur für die Laufzeit des Tarifvertrags. „Das ist binnen weniger Monate verpufft“, sagt die Betriebsrätin im Evonik-Chemiepark in Marl. „Deshalb braucht es jetzt deutlich mehr Entgelt – und zwar auf Dauer!“

Die Bundesregierung hatte seinerzeit ermöglicht, eine von den Tarifparteien auszuhandelnde Prämie von bis zu 3.000 Euro steuer- und abgabenfrei zu stellen. Diesen Spielraum hat die IGBCE in vielen Branchen voll ausgenutzt. Der Tarifabschluss in der chemisch-pharmazeutischen Industrie aus dem Oktober 2022 war der erste große Flächentarifvertrag, der diese Prämie enthielt. Sie kann nicht noch einmal aufgelegt werden. Das würde auch nicht mehr helfen, denn die Preise haben sich längst dauerhaft auf einem höheren Niveau eingependelt.

Die Folge für die Beschäftigten: Reallohnverluste. „Die Inflation hat die Tariferfolge eines ganzen Jahrzehnts aufgefressen“, umschreibt es Tarifvorstand Oliver Heinrich. „Das kann so nicht bleiben.“ Beispiel: Noch 2020 lagen die Entgelte in der Chemie gut 13 Prozentpunkte höher als die Preissteigerungen. Heute ist der Abstand auf null zusammengeschrumpft. Es gibt also Nachholbedarf.

Dies ist eine Empfehlung mit Maß und Mitte.

Oliver Heinrich,
IGBCE-Tarifvorstand

Preistreiber belasten Beschäftigte

Inzwischen liegen die Inflationsraten zwar wieder deutlich niedriger, aber gerade erst zum Jahreswechsel sind neue Preistreiber hinzugekommen: Auslaufen der Preisbremsen, höhere Mehrwertsteuer für Gas und Gastronomie, höhere CO₂-Abgaben für Sprit und Heizung – das alles belastet die Beschäftigten zusätzlich. Und vom versprochenen Klimageld als Kompensation ist weit und breit nichts zu sehen.

Auch das ist ein Grund, weshalb die Stimmung in der klassischen Mittelschicht mies ist, zu der die IGBCE-Mitglieder traditionell gehören. 59 Prozent der befragten Mitglieder blicken für sich persönlich „eher pessimistisch“ oder „sehr pessimistisch“ ins neue Jahr. Es ist ein Spiegel der Gemütslage der Republik. Die IGBCE sieht daher auch die Tarifparteien in der Verantwortung, dem etwas entgegenzusetzen. „Wir wollen den Menschen den Optimismus zurückbringen und die Binnennachfrage stärken“, sagt Heinrich. „Das hilft nicht nur unseren Mitgliedern, sondern auch dem Wirtschaftsstandort.“

Die Chance dafür ist jetzt. In der größten IGBCE-Branche – der chemisch-pharmazeutischen Industrie steht die nächste Tarifrunde an. 585.000 Beschäftigte und ihre Familien betrifft das. Der Hauptvorstand der IGBCE hat gerade seine Forderungsempfehlung beschlossen. Wichtigster Punkt: eine „Erhöhung der Einkommen und Ausbildungsvergütungen für unsere Mitglieder, die bei Berücksichtigung der hohen Inflation und dem Entfall der Inflationsausgleichsprämie eine nachhaltige Reallohnentwicklung im Fokus hat“. Den Rahmen für diese Forderung sieht der Hauptvorstand bei sechs bis sieben Prozent.

„Dies ist eine Forderungsempfehlung mit Maß und Mitte“, sagt Heinrich, der gleichzeitig IGBCE-Verhandlungsführer für die Chemie ist. „Sie überfordert auf Unternehmensseite niemanden – aber hilft auf Belegschaftsseite vielen.“ Mit der Forderung konzentriere man sich auf die Bekämpfung der Reallohnverluste „nicht mehr, aber auch nicht weniger“.

Die Arbeitgeber sollten sich hüten, alle in die Krise zu reden.

Daniel Becker,
Vorsitzender Vertrauenskörper

Keine Spur von genereller Krise

Gleichzeitig warnte er die Arbeitgeber davor, voreilig einem Krisenabschluss das Wort zu reden und zu behaupten, dass es nichts zu verteilen gebe. Die IGBCE kenne die Lage der Branche sehr gut. Schwierig sei sie vor allem in den energieintensiven Industrien, die Geschäfte der Pharma- oder Kon­sum­gü­ter­in­dus­trie etwa liefen glänzend.

„Wir wachsen seit Jahren und fahren ordentliche Gewinne ein – auch im letzten Jahr wieder“, sagt beispielsweise Daniel Becker, Vorsitzender des Vertrauenskörpers und Betriebsrat bei Boehringer Ingelheim in Biberach. „Die Kolleginnen und Kollegen fordern ihren Anteil daran. Denn er steht ihnen zu.“ Sie seien es schließlich, die diese Ergebnisse erst möglich machten. „Betriebe wie unseren gibt es zuhauf“, macht Becker deutlich. „Die Arbeitgeber sollten sich also hüten, alle in die Krise zu reden.“

Das zeigt nicht zuletzt ein Blick auf die Fakten: Die Quote der Unternehmen, die aktuell krisenbedingt von Öffnungsklauseln Gebrauch machen, liegt weit unter fünf Prozent. „Eine allumfassende Krise sieht anders aus“, macht Heinrich klar. Und: Der Anteil der Personalkosten am Umsatz liegt in der Chemie bei weniger als einem Achtel. Es sind also ganz andere Faktoren, die die Kosten der Betriebe treiben. Heinrich betont: „Wir haben eine bodenständige Forderung vorgelegt jetzt erwarten wir auch Realitätssinn vom Sozialpartner.“

Die Zeiten, als Bewerberinnen und Bewerber Schlange standen, sind lange vorbei.

Timo Litzbarski,
Betriebsratsvorsitzender, Procter & Gamble in Euskirchen

Zumal die Chemie-Industrie vor einem gewaltigen Demografieproblem steht. In naher Zukunft gehen pro Jahr gut 25.000 Beschäftigte in den Ruhestand, aktuell rücken jedoch nur gut 10.000 jährlich nach. „Die Zeiten, als Bewerberinnen und Bewerber Schlange standen, sind lange vorbei. Heute sind es die Arbeitgeber, die sich um den Nachwuchs bemühen müssen und nicht umgekehrt“, sagt Timo Litzbarski, Betriebsratsvorsitzender von Procter & Gamble in Euskirchen.

Gerade die Arbeit in der Produktion verliert für die junge Generation zunehmend ihren Reiz: kaum Homeoffice, Schichtarbeit, feste Zeitpläne. Dorthin zieht es Menschen, die sich den Job inzwischen quasi aussuchen können, immer weniger. Viele Betriebe haben sich auf den Wandel in der Arbeitswelt noch nicht ausreichend eingestellt. „Die Arbeitgeber müssen massiv an ihrer Attraktivität arbeiten. Dazu gehören Arbeitsbedingungen und Löhne, die mit anderen wichtigen Industriezweigen mithalten können“, mahnt Litzbarski. „Andernfalls laufen ihnen die Leute davon.“

Sozialpartnerschaft kann keine Einbahnstraße sein.

Alexandra ­Friedrich
Betriebsratsvorsitzende, B. Braun in Melsungen

Mehr Schutz für IGBCE-Mitglieder

Ein weiterer wichtiger Punkt in der Forderungsempfehlung des Hauptvorstands ist eine Art Sicherheitsbonus exklusiv für IGBCE-Mitglieder. Im Wortlaut: „Tarifliche Regelungen für besseren Schutz und Sicherheit für unsere Mitglieder.“ Ziel ist, dass sich eine Gewerkschaftsmitgliedschaft auch mit Blick auf die Tarifpolitik lohnen muss. Bis heute übertragen die Arbeitgeber die Vereinbarungen, die die IGBCE nur für ihre Mitglieder schließt, auf alle Beschäftigten.

„Immer öfter fragen mich IGBCE-Mitglieder: Warum macht ihr eigentlich Tarifverträge, von denen auch Trittbrettfahrer profitieren? Wo ist da mein Vorteil?“, erzählt Alexandra ­Friedrich, Betriebsratsvorsitzende von B. Braun in Melsungen. Bislang allerdings verweigern die Chemie-Arbeitgeber entsprechende Regelungen. Im vergangenen Tarifabschluss hatten sich beide Seiten darauf verständigt, „Ideen für tarifliche Regelungen zur Stärkung der Tarifbindung auf beiden Seiten“ zu entwickeln. Das umfasst aus IGBCE-Sicht zwingend zusätzliche Anreize, in die Gewerkschaft einzutreten.

Die Gespräche dazu brachten in den vergangenen Monaten jedoch keine Fortschritte, eher das Gegenteil. Deshalb schlägt der Hauptvorstand nun vor, diesen Punkt zum Teil des Forderungspakets zu machen. „Sozialpartnerschaft kann keine Einbahnstraße sein“, sagt Friedrich. „Da müssen sich die Arbeitgeber endlich bewegen.“ Als mögliche Punkte eines Sicherheitspakets speziell für Mitglieder kann sich Verhandlungsführer Heinrich eine Vielzahl von Regelungen vorstellen. Als Beispiele nennt er einen verbesserten Kündigungsschutz für IGBCE-Mitglieder oder höhere Zuschüsse zu Kranken- oder Kurzarbeitergeld. Klar ist für ihn: „Wir werden in dem Punkt nicht ­nachgeben.“

Tarifrunde Chemie 2024

Bundesentgelttarifvertrag soll modernisiert werden

Dritter zentraler Punkt der Forderungsempfehlung ist die Modernisierung des Bundes­entgelt­tarif­ver­trags (BETV). „Hier herrscht ein gewaltiger Modernisierungsstau“, sagt der IGBCE-Tarifvorstand. Der BETV stamme aus dem Jahr 1987, kenne noch nicht mal Bachelor und Master, habe viel zu komplizierte Regelungen bei Höhergruppierungen und umfasse inzwischen viele Akademikerinnen und Akademiker nicht mehr. Insgesamt brauche es eine Verbesserung der Weiterentwicklungsmöglichkeiten für die Beschäftigten, fordert der Hauptvorstand.

Zu den Hemmnissen gehört eine längst überholte Unterscheidung zwischen kaufmännischen, technischen und Meistertätigkeiten. Auch müssen veränderte Anforderungen und Qualifikationswege im Entgeltgruppenkatalog berücksichtigt ­werden.

Zu weiteren Forderungspunkten zählen Entgeltgarantien für die unteren Entgeltgruppen, eine bessere Durchlässigkeit der Entgeltstufen 8 und 9 insbesondere für Produktionsberufe oder auch die tarifliche Absicherung für Akademikerinnen und Akademiker sowie den unteren Außertariflichen-Bereich. Mittlerweile sind 25 Prozent der Beschäftigten nicht mehr vom BETV betroffen. Der Manteltarifvertrag für Akademikerinnen und Akademiker dagegen, unter den viele aus dieser Beschäftigtengruppe fallen, sorgt mitunter dafür, dass sie unterhalb der höchsten BETV-Entgeltgruppe verdienen und ihnen auch sonst Tarifschutz – etwa mit Blick auf die Arbeitszeit – fehlt.

Die Forderungsempfehlung wird in den kommenden Wochen breit unter den Belegschaften der gut 1.700 Betriebe der chemisch-pharmazeutischen Industrie diskutiert. Ab Mitte März werden die regionalen Tarifkommissionen ihre Forderungen beschließen, bevor am 10. April die Bundestarifkommission die endgültige Forderung aufstellt. Bereits fünf Tage später beginnen die regionalen Tarifgespräche. Anschließend wechseln die Verhandlungen auf die Bundesebene. Für den 14./15. Mai ist die erste Bundestarifverhandlung angesetzt, dazu treffen sich beide Seiten in Teistungen bei Göttingen.

Die Laufzeit des aktuell noch gültigen Tarifvertrags – und damit auch die Friedenspflicht endet am 30. Juni. Ab dann wären Arbeitskampfmaßnahmen möglich.

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