Menschen & Gemeinschaft

Reportage

Es läuft nicht rund

Neben der Produktion von Michelin in Karlsruhe sind auch die Standorte in Trier und Homburg betroffen.

Foto: Picture Alliance/Keystone | Jochen Zick

Text Gerd Schild

Deutschland ist ein bedeutender Produktionsstandort für Pkw- und Lkw-Reifen. Jetzt sollen gleich mehrere Werke schließen – die Branche ist in Aufruhr. Was macht das mit Betroffenen, was kann die IGBCE tun – und welche Lösungen gibt es?

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Wollte eigentlich bei Goodyear in Fulda in Rente gehen: Jasper Schultheis.

Foto: Dawin Meckel

Jasper Schultheis klingt auch zwei Monate nach der Schocknachricht noch tieftraurig: „Ich wollte bei der Gummi in Rente gehen.“ Die Gummi, das ist das Reifenwerk in Fulda. 1906 stellte man hier den ersten Vollgummireifen her. In den 1960er-Jahren übernahm Goodyear. 2025 soll nun Schluss sein, das Aus für rund 1.000 Beschäftigte am Standort. Jasper Schultheis ist einer von ihnen. „Mein Traum wurde zerstört“, sagt der 20-Jährige.

Im Januar 2024 lernt er noch für die Abschlussprüfung, danach endet dann seine dreieinhalbjährige Ausbildung zum Elektroniker für Betriebstechnik. Schultheis hatte im August 2020 angefangen. Der junge Mann mag die Stadt und das Umland, hier ist er aufgewachsen, hier hat er gerade eine Wohnung renoviert, hier will er nicht weg. Doch dann kam der Schock mit der ersten Meldung im Sommer 2023, als Goodyear ankündigte, die Hälfte der Belegschaft zu entlassen. Es gab Gespräche, das Unternehmen legte die Pläne auf Eis, um ein halbes Jahr später zu verkünden: Das Werk wird 2025 komplett geschlossen.

Es spricht eigentlich viel für die heimische Reifenindustrie: Hochwertige Produkte, Innovation, moderne und effiziente Produktion, guter Zugang zu Fachkräften, Fokussierung auf umweltfreundliche Technologien, das sollte doch eigentlich Deutschlands Position in der globalen Reifenindustrie festigen.

Doch die Reifenproduktion in Deutschland steht schon länger unter Druck. Der Lkw-Reifen-Markt in Europa ist um 25 Prozent eingebrochen. Dazu der Druck aus China, woher seit Jahren Billigware auf den Markt drängt. Einen Großteil dieser Reifen kann man nicht runderneuern – eine ökologische Fehlentwicklung. Weil die Reifen aus Fernost trotzdem günstiger sind als Runderneuerte, müsste hier Europa eigentlich regulatorisch eingreifen, etwa mit Anti-Dumping-Zöllen oder mit Umweltgebühren, um den europäischen Green Deal wirklich ernst zu nehmen. Doch bislang passiert hier wenig.

Analyse von Michael Wolters: Reifenbranche unter Druck

Spring an die richtige Stelle

Mehrere Reifenwerke betroffen

Zwölf Reifenwerke gibt es aktuell noch. In den vergangenen Jahren sind schon einige Werke geschlossen worden, darunter 2023 ein Conti-Standort in Aachen mit 1.800 Beschäftigten, noch früher deren Lkw- und Pkw-Reifen-Werk in Hannover-Stöcken. Michelin hat ein Werk in Bamberg geschlossen, Goodyear ein Reifenlager in Philippsburg – die Pneus werden jetzt in Tschechien gelagert. Dieser Trend setzt sich fort: Michelin will sich bis zum Jahr 2025 komplett aus der Produktion von Lkw-Reifen in Deutschland zurückziehen. Die Folge: Die Standorte in Karlsruhe und Trier sollen zumachen. Und bei Michelin ist nicht nur die Belegschaft im Werk betroffen: Auch das Kundenkontaktzentrum mit mehr als 100 Beschäftigten soll von Karlsruhe nach Polen verlagert werden. Goodyear wiederum will nicht nur sein Werk in Fulda schließen. Am Standort Fürstenwalde sollen bis 2027 ebenfalls 700 der rund 1.000 Arbeitsplätze wegfallen.

Jasper Schultheis hat vom Aus für seinen Traum im November erfahren, ein paar Minuten vor der großen Versammlung im Werk. Er ist im Betriebsrat und nicht nur Vorsitzender der Jugendvertretung in Fulda, sondern auch für alle anderen Goodyear-Standorte. Bei der Versammlung war er den Tränen nahe, am Tag darauf schrieb er eine Klausur in der Berufsschule. „Ich bin in Tränen ausgebrochen und wurde nach Hause geschickt.“

Er will jetzt erst einmal den Einjahresvertrag annehmen, den Good­year ihm angeboten hat. Er freut sich auf das Team und die tägliche Arbeit an den Maschinen. Mit Sorge blickt der Jugendvertreter aber auf den Jahrgang, dessen Ausbildungsende erst nach der Schließung ansteht. „Was sollen die machen?“

Kampf um den Goodyear-Standort in Fürstenwalde

Protest vor dem Werktor: Kurz vor Weihnachten hatte das Unternehmen angekündigt, die Reifenproduktion 2027 zu beenden.

Foto: Picture Alliance/dpa | Soeren Stache

Die IGBCE und der Betriebsrat bemühen sich darum, den Goodyear-Standort in Fürstenwalde zu erhalten. Unterstützung erhalten sie dabei auch von der Politik.

Ende Januar versammelten sich bei einer Kundgebung rund 100 Kolleginnen und Kollegen vor dem Werktor, um für den Fortbestand des Goodyear-Reifenwerks in Fürstenwalde zu demonstrieren. Zuvor hatte es einen Gesprächstermin von Betriebsrat und Geschäftsführung zu den Schließungsplänen des Managements sowie eine Betriebsversammlung zu dem Thema gegeben.

Rolf Erler, Bezirksleiter des Bezirks Berlin-Mark Brandenburg, sagte, es solle zunächst ein Fragenkatalog für das Management erstellt werden. „Wir werden ein Alternativkonzept erarbeiten.“ Auch Gespräche mit dem benachbarten Autobauer Tesla seien geplant, um auszuloten, ob es Optionen einer Zu­sam­men­ar­beit gebe, so Erler.

Der Betriebsratsvorsitzende Peter Weiser sagte: „Die Stimmung in der Belegschaft ist gedrückt.“ Es habe bereits einige Kündigungen von Beschäftigten gegeben. Mithilfe eigener Wirtschafts­beraterinnen und Wirtschaftsberater wolle der Betriebsrat nun nach Lösungsmöglichkeiten suchen, um die Reifenproduktion doch noch zu erhalten. Dabei habe man auch die volle Unterstützung der Landesregierung: Im Dezember sind Ministerpräsident Dietmar Woidke und Wirtschaftsminister Jörg Steinbach (beide SPD) bereits für einen Besuch im Werk gewesen. Für Anfang März hat sich sogar Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) angekündigt.

Goodyear plant ungeachtet der Proteste weiterhin, den Reifenstandort zu schließen, wie eine Unternehmenssprecherin sagte. Es seien weitere Gespräche mit dem Betriebsrat geplant. Ziel sei es, eine faire Lösung für alle Beteiligten zu finden.

Werk als Problemlöser

Im Goodyear-Werk Fürstenwalde gab es im Vorjahr Besuch, Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) war gemeinsam mit seinem Parteikollegen, Wirtschaftsminister Jörg Steinbach, angereist. Vor Ort sprachen die Politiker auch mit Peter Weiser. Der ist seit mehr als 20 Jahren Betriebsrat, seit 2018 Vorsitzender. „Wir bleiben dran, wir kämpfen“, sagt er. So ganz hat er die Hoffnung nicht aufgegeben, dass Goodyear den Wert des Werkes noch erkennt. Ein Werk, in das 2014 noch mehr als 100 Millionen Euro investiert wurden. Der Standort, so beschreibt es Weiser, gilt als Problemlöser. Reifen für Ferrari produziert man hier, ein Porsche-Entwicklungszentrum ist eingegliedert. Und wenn eine Reifenproduktion irgendwo im Unternehmen nicht so läuft: „Hier kriegen wir es gebacken“, sagt Weiser.

Peter Weiser hat hier 1980 als Auszubildender angefangen, 2029 wollte er eigentlich in Rente gehen. Er wohnt nur 500 Meter vom Werk entfernt. Im November 2023 kündigte der Mutterkonzern Goodyear an, die Produktion bis Ende 2027 schrittweise einzustellen. „Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie das ohne Werk, ohne den Geruch hier sein soll.“

Doch Weiser und die anderen wollen kämpfen. Die Gigafactory von Tesla ist nur 20 Kilometer entfernt. „Wir könnten die Reifen dahin rollen“, sagt Weiser und lacht. Er hat die Hoffnung, dass es hier doch noch zu einer Zusammenarbeit kommen kann. Oder dass das Werk an einen anderen Hersteller verkauft wird. Seit Januar befasst sich eine Arbeitsgruppe mit Arbeitgebervertretern, dem brandenburgischen Wirtschaftsministerium und einem Vertreter der IGBCE mit der Zukunft des Standortes ­Fürstenwalde.

Foto: privat

Wir bleiben dran,
wir kämpfen.

Peter Weiser,
Betriebsratsvorsitzender Goodyear Fürstenwalde

Faire Verhandlungen? „Zynisch!“

Auch für Anne Weinschenk stehen nun viele Gespräche an. Sie ist in Fulda Betriebsbetreuerin der IGBCE und als Konzernbetreuerin für den gesamten Goodyear-Konzern verantwortlich, hat als Mitglied im Aufsichtsrat einen „umfangreicheren Einblick“, wie sie das nennt. Die Kommunikation nennt sie eine Frechheit. Das Unternehmen habe im Spätsommer 2023 Verhandlungen zum angekündigten Personalabbau abgebrochen, die noch gar nicht richtig begonnen hatten. Und dann kam Mitte November der Tag, an dem alle vor vollendete Tatsachen gestellt wurden.

Jetzt heißt es aus dem Unternehmen, man wolle schnelle und faire Verhandlungen führen und schnell einen Sozialplan ausarbeiten. Weinschenk sagt dazu: „Das ist zynisch!“ Sie hoffe, dass es für Goodyear teuer wird und notfalls Arbeitskampfmaßnahmen zu anständigen Ergebnissen für die Belegschaft führen werden. Erste Gespräche haben begonnen. „Alle deutschen Werke liefern hervorragende Qualität, warum sieht GoodyearMade in Germany‘ nicht als Wettbewerbsvorteil?“

Reifenfabriken in Deutschland

Kaum Fluktuation, viel Know-how

Michelin gilt für viele als der Gradmesser in der Reifenindustrie. Erhöht das französische Unternehmen die Preise, gehen die anderen mit. So beschreibt es Lukas Kopaczewski, Betriebsratsvorsitzender von Michelin Deutschland. Kopaczewski hat lange in der Produktion in Karlsruhe gearbeitet. Jetzt muss er etwas stemmen, das schwerer wiegt als die Lkw-Reifen: Das Unternehmen will den Standort bis Ende 2025 schließen das Aus für mehr als 500 Beschäftigte. Kopaczewski äußert Unverständnis: „Unsere Reifen werden gebraucht!“ Es gebe hier kaum Fluktuation, unglaublich viel Know-how. Und Reifen herzustellen sei mehr, als auf den Knopf einer Maschine zu ­drücken.

Das Unternehmen wollte mit dem Betriebsrat im Stillen einen Sozialplan ausarbeiten, Lukas Kopaczewski und seine Kollegen und Kolleginnen machten dann Druck, dass Michelin seine Pläne öffentlich darlegt – und einen ordentlichen Prozess beginnt. Aktuell sondiert der Betriebsrat alternative Möglichkeiten, hat sich frühzeitig Hilfe durch Anwaltskanzleien und Sachverständige geholt, fühlt sich bestens mit den anderen Standorten vernetzt, analysiert das Werk und den Markt. „Auch die IGBCE ist seit der ersten Sekunde für uns da“, sagt er. Die Hoffnung: dass man gar nicht in Gespräche über Abfindungen kommen muss für die Belegschaft, die zur Hälfte aus Frankreich zum grenznahen Werk pendelt.

„Das ist ein topmodernes Werk, mit top ausgebildeten Mitarbeitern“, sagt Kopaczewski und fügt an: „Wenn ich das Gefühl hätte, unsere Reifen wären verzichtbar oder nicht wettbewerbsfähig, dann hätten wir schon einen Sozialplan fertig. Aber so ist es nicht – wir werden ­kämpfen!“

Update – Alternativkonzepte für Michelin vorgelegt

IGBCE und Betriebsräte haben in den vergangenen Wochen Alternativkonzepte für die betroffenen Michelin-Standorte in Karlsruhe, Trier und Homburg erarbeitet. Die Konzepte sehen die Bildung von Kompetenzzentren und höher spezialisierten Fertigungen vor, um im Wettbewerb besser bestehen zu können. Außerdem soll die Zusammenlegung von Werken und die Reduktion der Beschäftigtenzahl die Kosten senken.

Die Vorschläge im Detail

Karlsruhe

Lukas Kopaczewski, Betriebsratsvorsitzender des Werks Karlsruhe, betont, dass der Standort bereits im Jahr 2025 CO₂ neutral produzieren könne: „Es wäre wirtschaftlicher Unfug, das innovative Werk Karlsruhe komplett stillzulegen und auf das einzigartige Wissen und Potenzial unserer Belegschaft zu verzichten.“ Er schlägt stattdessen vor, den Standort mit reduzierter Belegschaft fortzuführen, eine Talentschmiede zu etablieren und sich im Bereich der Leicht-LKW und LKW-Reifen weiter zu spezialisieren.
Gleiches gelte für den Bereich des Customer Contact Centers, so Jens Neubauer, Betriebsratsvorsitzender des Vertriebs, der Logistik und den Zentralbereichen: „Meine Kolleginnen und Kollegen haben eine jahrelange, teils jahrzehntelange Erfahrung im Umgang mit unseren Kundinnen und Kunden und Produkten, aber auch mit den speziellen und komplexen IT-Systemen. Bei der geplanten raschen Verlagerung nach Polen sind Erfahrungsverluste und Auswirkungen auf unsere Kundinnen und Kunden wohl unvermeidbar.“

Trier

Vergleichbare Ergebnisse ergab die Analyse für die Wulstkernfertigung im Werk Trier. Der Betriebsratsvorsitzende Stefan Bungert berichtet, dass das Werk in Trier in allen wesentlichen Kennzahlen deutlich besser liege als andere Standorte in Europa mit vergleichbarer Produktion. Zusätzlich weise es die mit Abstand niedrigsten Herstellungskosten bei bester Qualität auf. Der Vorschlag des Trierer Betriebsrats beinhaltet unter anderem, das Werk als Betriebsteil von Bad Kreuznach zu führen und zusätzlich als Kompetenzzentrum zur Wulstkernherstellung auszubauen.

Homburg

Für Homburg, den größten der drei betroffenen Standorte forderte der dortige Betriebsratsvorsitzende, Hans-Joachim Jordan, die weitere Stärkung und den Ausbau der Runderneuerung von LKW-Reifen, sowie die Fortführung der Neureifenproduktion und der Abteilungen Halbfertigprodukte mit reduzierter Mannschaft bei einer klaren Fokussierung auf die anspruchsvollen Reifendimensionen. „Michelin produziert in Homburg auf den modernsten Anlagen der Welt LKW-Reifen. Diese Anlagen nicht weiter zu nutzen, verstößt gegen jede wirtschaftliche Vernunft“, fasst Jordan die Ergebnisse der wirtschaftlichen Analyse zusammen. Das Management von Michelin will in den nächsten Wochen die alternativen Vorschläge der Arbeitnehmervertreter „ergebnisoffen“ prüfen. Das nächste Treffen der Verhandlungskommissionen ist für Anfang März geplant.