Arbeit & Gesellschaft

Interview

„Es besteht Nachholbedarf bei den Entgelten“

Thorsten Schulten,
Experte für Tarifpolitik und Leiter des Tarifarchivs beim Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung.

Foto: Hans-Böckler-Stiftung / Ulrich Baatz

Laut einer aktuellen Umfrage unter IGBCE-Mitgliedern müssen sich drei von vier wegen der hohen Inflation beim Haushaltsbudget einschränken. Dabei sind die Teuerungsraten zuletzt nicht mehr so stark gestiegen. Was ist das Problem?
Wenn wir uns die Entwicklung der Tariflöhne in den vergangenen Jahren anschauen, stellen wir fest, dass in den Jahren 2021 und 2022 im Schnitt alle Branchen deutliche Reallohnverluste hinnehmen mussten – kulminiert war das ein Minus von mehr als fünf Prozent. 2023 lagen die durchschnittlichen Tariflohnerhöhungen zwar mit 5,5 Prozent nah bei der Preissteigerungsrate von 5,9 Prozent, damit konnte im vergangenen Jahr die Inflation fast ausgeglichen werden. Das reichte aber natürlich überhaupt nicht, um die historisch hohen Inflationsraten und den damit einhergehenden Reallohnverlust der zwei Vorjahre auszugleichen. Es besteht also deutlicher Nachholbedarf bei den Entgelten. Zwar wird für 2024 auch eine niedrigere Inflationsrate von 2,5 bis 3,5 Prozent erwartet, dennoch halte ich eine kräftige Reallohnerhöhung für sehr wichtig. Der private Konsum und die Binnenkonjunktur müssen deutlich gestärkt werden. Wir sind vielleicht Exportweltmeister, aber der private Konsum ist immer noch der wichtigste Faktor für unsere Volkswirtschaft. Das wird leider sehr oft unterschätzt als Ursache für unsere lahmende Wirtschaft.

Beim Blick auf den Kassenzettel merkte man bislang auch nicht so sehr, dass die Inflation sinkt.
Das ist wenig überraschend: Die Preissteigerungsrate für Güter des täglichen Gebrauchs ist deutlich höher als die allgemeine Inflationsrate. Nach den offiziellen Angaben des Statistischen Bundesamtes lag 2022 die Preissteigerungsrate bei insgesamt 6,9 Prozent. Für Nahrungsmittel betrug der Wert aber 13,4 Prozent, bei Strom und Gas sogar 32,7 Prozent. 2023 betrug die allgemeine Preissteigerung 5,9 Prozent, die Inflation für Lebensmittel lag aber bei 12,4 Prozent, für Strom und Gas bei 14 Prozent. Das führt dazu, dass die Inflation auch nicht für alle Beschäftigten gleich ausfällt: Wer ein niedrigeres Einkommen hat, leidet mehr darunter, denn er oder sie muss anteilsmäßig viel mehr für Güter des täglichen Lebens ausgeben als höhere Einkommensklassen.

Die Lohn-Preis-Spirale ist eine ökonomische Erzählung aus den Siebzigerjahren.

Thorsten Schulten

Wie bewertest du eigentlich die Warnungen vor der berühmt-berüchtigten Lohn-Preis-Spirale?
Die Lohn-Preis-Spirale ist eine ökonomische Erzählung aus den Siebzigerjahren, mit der man damals den Gewerkschaften die Verantwortung für die hohe Inflation zuschieben wollte und die noch heute gern bemüht wird. Dieser Mythos deckt sich aber nicht mit der Realität: Mit den Preissteigerungen der vergangenen zwei, drei Jahre hat die Lohnentwicklung nicht das Geringste zu tun. Im Gegenteil: Wir brauchen die deutlichen Reallohnzuwächse, um die Entgeltverluste der Vergangenheit aufzuholen. Realistischer ist, dass die zuletzt häufiger diskutierte Gewinn-Preis-Spirale die Inflation angetrieben hat, also dass Unternehmen die hohen Inflationsraten genutzt haben, um noch extra was auf ihre Preise draufzuschlagen und damit die Gewinne zu erhöhen. Nicht umsonst konnten wir zuletzt Rekordgewinne in der Nahrungsmittelindustrie und Rekordmargen bei den Dax-Konzernen sehen.

Die aktuelle Wirtschaftslage beunruhigt viele Beschäftigte. Was könnte neben einem ordentlichen Entgeltplus tariflich geregelt werden, um der angespannten Lage in manchen Betrieben gerecht zu werden?
Man kann mit einem Flächentarifvertrag nicht auf alle spezifischen Krisenzustände einzelner Unternehmen eingehen. Und wenn Beschäftigungssicherung in manchen Bereichen ein entscheidender Punkt ist, wird es schwer, gleichzeitig hohe Lohnforderungen durchzusetzen. Aber es ist möglich, flexible Puffer und Öffnungsklauseln einzubauen, die abhängig von der wirtschaftlichen Lage der Betriebe Differenzierungsmöglichkeiten bieten.

Zur Person: Thorsten Schulten hat Politikwissenschaften, Volkswirtschaftslehre und Soziologie studiert. Er ist Experte für Tarifpolitik und Leiter des Tarifarchivs beim Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung. Schulten promovierte 2003 zum Thema „Solidarische Lohnpolitik in Europa“ und ist seit 2016 Honorarprofessor an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen.