Arbeit & Gesellschaft

Kompass

Lokomotive ohne Dampf?

Text Inken Hägermann – Illustration Eugen Schulz

Im neuen „Kompass“-Talk diskutierten IGBCE-Chef Michael Vassiliadis und Christian Kern, einst österreichischer Bundeskanzler, heute unter anderem Aufsichtsrat in der Glasindustrie, über die deutschen und europäischen Herausforderungen in der Transformation.

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Nach einem Urteil des Bundes­verfassungs­gerichts musste sich die Bundesregierung auf ein Paket aus Einsparungen und Abgabenerhöhungen für den Haushalt 2024 einigen. Christian, wie bewertest du den neuen Bundeshaushalt?

Christian Kern: Einerseits hat die Regierung Handlungsfähigkeit bewiesen, indem sie eine Lösung vorgelegt hat. Andererseits hat man sich – ohne große Not und selbst verschuldet – in eine unsägliche Lage gebracht, die politisches Vertrauen kostet. Bei ihren Nachbesserungen hat zudem der Blick für das Notwendige gelitten, nämlich den klimagerechten Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft – und damit die Sicherung des zukünftigen Wohlstands.

Foto: Parlamentsdirektion /
PHOTO SIMONIS

Christian Kern, geboren 1966, war von Mai 2016 bis Dezember 2017 Bundeskanzler der Republik Österreich sowie von 2016 bis 2018 Parteivorsitzender der Sozialdemokratischen Partei Österreichs (SPÖ). Der studierte Kommunikationswissenschaftler ist aktuell Verwaltungsratsvorsitzender der Interfloat Corporation/GMB Glasmanufaktur Brandenburg einem Solarglashersteller im Organisationsbereich der IGBCE.

Michael, was sagst du?

Michael Vassiliadis: Was derzeit oft unterschätzt wird: So viel kann man gar nicht einsparen, wie verloren geht, wenn die deutsche Wirtschaft nennenswert in Schwierigkeiten bleibt oder kommt. Wenn Transformation gut funktioniert, kann daraus Wohlstand und Erfolg entstehen. Das passiert aber nicht automatisch, nur weil man transformiert man muss es auch richtig machen. Deswegen steht für mich im Vordergrund: Wurden mit den getroffenen Entscheidungen auch die notwendigen Priorisierungen vorgenommen? Kann man sich als Unternehmen und als Bürgerin oder Bürger an wesentlichen Bezugspunkten orientieren? Ich finde, da ist noch einiges zu tun.

Welche Investitionen wären aus deiner Sicht notwendig?

Vassiliadis: Das ist verbunden mit der Frage: Was wollen wir fördern, was hat industriepolitisch Priorität für uns? Die Ampel hat im neuen Haushalt zwar gewisse Prioritäten gesetzt etwa, dass es keine tiefen Einschnitte in den Sozialhaushalt geben soll, was ich richtig finde. Aber inhaltlich hat man keine prioritären Bereiche benannt.

Ihr seid das Powerhouse der euro­päischen Integration, an euch hängt der Rest Europas.

Christian Kern,
österreichischer Manager und Politiker

Christian, wo siehst du Nachbesserungs­bedarf?

Kern: Es ist immer schwierig, wenn man als Nachbar in ein Land schaut und Ideen vorträgt, wie es besser laufen könnte. Allerdings sind die Beziehungen zwischen Österreich und Deutschland so wichtig, dass es uns nicht egal sein kann, was hier passiert. Das gilt nicht nur für Österreich, sondern für ganz Europa. Ihr seid das Powerhouse der euro­päischen Integration, an euch hängt der Rest Europas. Wenn ich mir aber anschaue, wo Deutschland heute steht bei der Infrastruktur, etwa der Deutschen Bahn: Über Jahre sind die Netze vernachlässigt worden, das ist wirklich bedauerlich. Das ist Folge einer ideologischen Konzeption, die die Staatsfinanzen zum einzigen Maßstab der wirtschaftspolitischen Betrachtung gemacht hat. Das ist falsch.

Warum?

Kern: Ein Bundeshaushalt wird nun mal nicht von der viel zitierten schwäbischen Hausfrau geführt, sondern von Menschen, die fähig sein sollten, strategisch zu denken. Wenn man jahrzehntelang kaum investiert in Infrastruktur, Gesundheit, Bildung trotz hoher Staatseinnahmen und Niedrigzinsumfeld, dann erntet man irgendwann die Probleme. Tatsächlich handelt es sich um eine deutsche Lebenslüge, das andauernde Spardiktat ist die Ursache vieler aktueller Probleme. Jetzt braucht es eine bewusste Strategie, in die Zukunft zu investieren in die digitale und industrielle In­fra­struk­tur, in den Verkehrsbereich, in das Bildungswesen. Deutschland und Österreich sind Industrieländer, wir brauchen die Industrie und wir brauchen die Transformation unserer Wirtschaft. Wenn wir da nicht aufholen, dann werden wir unser Wohlstandsmodell der vergangenen 60, 70 Jahre abschreiben können und zum Freilichtmuseum für asiatische Touristen werden.

„Lebenslüge Spardiktat“: Österreichs Ex-Bundeskanzler Christian Kern (rechts) im Gespräch mit Michael Vassiliadis und Moderatorin Lea Karrasch.

Foto: Kai-Uwe Knoth

Was funktioniert in anderen ­Ländern besser?

Kern: Nationen wie die USA, China oder Indien machen heutzutage Industriepolitik mit einer strategischen Vision. In Europa glauben offenbar immer noch viele an das Konzept des unschuldigen Marktes, der alles richten wird. Tatsächlich ist es so, dass wir global betrachtet mit einem Taschenmesser zu einem Feuergefecht kommen und uns wundern, dass wir unsere Interessen nicht durchsetzen können. Wir kapieren nicht, dass uns die Felle davonschwimmen, weil alle anderen schon längst nach neuen Regeln spielen.

Vassiliadis: Die Frage ist doch: Will man strategische Industriepolitik machen? Oder will man nur Probleme managen, wenn sie auftauchen? Das wäre so eine Art karitativ unterstützende Variante. Davon abgesehen spielt Geld zwar eine Rolle, aber nicht die einzig entscheidende: Unternehmen geht es auch um Geschwindigkeit, Verlässlichkeit und Regulatorik. Da muss man sich fragen: Ist ausgerechnet jetzt der richtige Zeitpunkt, ein funktionierendes Chemikalien­recht in Europa mit riesigem Aufwand zu reformieren und damit neue bürokratische Lasten zu schaffen? Ich halte das für komplett entrückt. Wir kämpfen aktuell darum, dass es die Unternehmen bald überhaupt noch gibt. Wenn es sie nicht mehr gibt, brauche ich auch kein neues Regulierungsrecht mehr. Deutschland muss diese Debatte auf den Tisch bringen, da ist Leadership gefragt als Lokomotive für die europäische Wirtschaft.

Christian, wie sind die Chancen für energieintensive Bereiche in Europa und Deutschland?

Kern: Ich habe den Eindruck, da wird ein Patient mit einem Aortenriss auf der Intensivstation eingeliefert und wir sagen: Dann nimm mal ein Aspirin und wir schauen in Ruhe, ob sich das Problem lösen lässt. Da wird Aspirin nicht funktionieren. Nehmen wir die Solarindustrie: Wenn man die ganze Wertschöpfungskette betrachtet, dann liegt die zu 85 bis 95 Prozent im asiatischen Ausland. Die Amerikaner erheben nun hohe Strafzölle und bauen diese Industrie komplett neu bei sich auf. Da sich neben den USA auch die anderen großen Verbrauchermärkte mit Zöllen vor asiatischen Produkten schützen, landet die gesamte globale Überproduktion in Europa. Darum liegt jetzt in Lagerhäusern in Rotterdam der doppelte Bedarf der europäischen Solarindustrie herum und wird billig verramscht, während die europäische Branche wegrasiert wird. Nun soll da zwar Förderung fließen, aber kein Mensch wird in diesen Sektor investieren, wenn er nicht weiß, dass er seine Produkte auf einem fairen Markt vertreiben kann.

Was ist dann die Lösung, Michael?

Vassiliadis: Wenn Europa sich nicht für eine aktive Industriepolitik entscheidet, wird hier nichts Neues mehr entstehen. Es gibt im globalen Wettbewerb mit anderen Regionen deswegen nur einen Weg: europäisch denken.

Ihr habt viele exzellente Leute – aber als Team funktioniert es nicht.

Christian Kern,
österreichischer Manager und Politiker

Wie blickt man von außen auf die deutsche Politik?

Kern: Es ist wie beim Fußball. Ihr habt viele exzellente Leute aber als Team funktioniert es nicht. Einer spielt Schubert, der Zweite Vivaldi und der Dritte Chopin. Aber es gibt niemanden, der sagt: Heute spielen wir alle gemeinsam Beet­hoven. Das führt auch zu einem demokratiepolitischen Problem. Wir in Österreich haben euch 35 Jahre harten Rechtspopulismus voraus. Jetzt wird offenbar auch Deutschland diesen Weg beschreiten. Das hat damit zu tun, dass entscheidende Fragen von den klassischen Parteien nicht wirklich beantwortet worden sind. Diese Sprachlosigkeit lässt Raum für die vermeintlich einfachen Lösungen der Rechtspopulisten. Wobei die keine tragbaren Lösungen anbieten, bei ihren Anhängern aber dennoch als kompetent gelten. Es braucht deswegen eine gemeinsame Strategie, wie wir nicht nur verteilen, sondern auch Wohlstand sichern. Ein früherer Präsident unseres Österreichischen Gewerkschaftsbundes sagte immer: Man muss die Kuh füttern, die man melken will.

Vassiliadis: Die deutsche Politik hat viele Ideen für eine klimagerechte Wirtschaft und Gesellschaft entwickelt und hinter diese Visionen eine Menge Moral gelegt. Jedes Windrad steht bei uns für mehr als nur CO₂‑Reduktion. Lange Zeit konnten sich viele hinter diesem Ziel versammeln, heute sieht das anders aus. Denn man hat stets die Frage unbeantwortet gelassen: Ab welchem Punkt entstehen aus Transformationsthemen finanzielle, organisatorische und infrastrukturelle Lasten? Jetzt ist die Frage unausweichlich. Ein Kassensturz ist nötig, um festzustellen: Wo stehen wir, was bedeutet das? Ich bin zuversichtlich, dass die aktuelle Regierung das angeht, nachdem sie ihren Haushalt auf die Reihe gebracht hat. Eines möchte ich ergänzen: Es gibt aktuell zwar viel berechtigte Kritik an der Ampel. Die haben in den vergangenen zwei Jahren aber auch eine Menge gemacht und angestoßen, wo vorher jahrelang gar nichts passiert ist. Wir haben anderthalb Jahrzehnte hinter uns, in denen die deutsche Wirtschaft floriert hat und sehr viel Geld in den Staatshaushalt geflossen ist, aber kaum in Infrastruktur und Bildung investiert wurde.

Wie also kann man das Land ­voranbringen?

Kern: Vorab möchte ich betonen: Deutschland hat jeden Grund, selbstbewusst zu sein. Bei aller berechtigten Kritik sprechen wir nicht über einen Trümmerhaufen, sondern über das Land, das in Europa die Führung hat, auf das die ganze Welt schaut. Für eine kollektive Depression gibt es keinen Anlass. Jetzt ist es wichtig, dass man entschlossen sagt: Das sind die Sektoren, an die wir glauben, da wollen wir stark sein. Wenn ich mir noch einen Schlusssatz erlauben darf: Machen ist wie wollen, nur krasser.

Vassiliadis: Es ist wichtig zu verstehen, dass der Energieeinsatz, den wir künftig etwa für die Chemieindustrie brauchen werden, eine Investition in die Wertschöpfungskette ist – und das kann man auch mit Klimaschutz verbinden. Die Alternative wäre, dass wir ein großes Altersheim werden, alles importieren und den mühsam erarbeiteten Wohlstand in einer Generation verfrühstücken. Das kann es nicht sein. Deutschland braucht die Welt, Deutschland braucht Europa und Deutschland braucht Innovation. Unsere Verpflichtung ist es nun, unsere Transformationsidee kompatibel für die Menschen in diesem Land zu machen.

IGBCE Kompass: Den neuen Polit-Talk mit Michael Vassiliadis und Gast kannst du in voller Länge nicht nur in der digitalen Ausgabe dieses Magazins sehen und hören, sondern auch über die „Meine IGBCE“-App, im Web bei igbce.de sowie auf dem Youtube-Kanal deiner Gewerkschaft und auf allen gängigen Podcast-Plattformen. Dort lässt er sich auch leicht abonnieren.