Arbeit & Gesellschaft

Hintergrundstory

Dieses Bild ist von der Grafikdesignerin Caro Holzapfel mithilfe des Machine-Learning-Modells Midjourney digital generiert worden.
Die Bilder haben keine Entsprechung in der Realität.

Die Mischung macht’s

Text Isabel Niesmann und Vivien Wagner

Eine aktuelle Sozialpartnerstudie zur mobilen Arbeit unter knapp 21.000 Chemiebeschäftigten zeigt, wie die Praxis aussieht und welche Chancen und Risiken mobile Arbeit birgt. Eine Erkenntnis: Mobile Arbeit und Arbeit im Büro können einander gut ergänzen. Dafür braucht es aber klare Regeln.

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Für Dominic Kraus hat mobiles Arbeiten vor allem einen entscheidenden Vorteil: mehr Zeit mit seiner Familie. „Wenn ich den Computer ausschalte, bin ich direkt da“, erzählt der 39-Jährige, der bei dem Pharmaunternehmen Boehringer Ingelheim in der Qualitätssicherung arbeitet und zur Arbeit eine halbe Stunde mit dem Auto fährt. Kein lästiger Nachhauseweg, kein Stau, keine verlorene Zeit. „Meine Kinder haben viel mehr von mir, wenn ich von zu Hause arbeite.“ Er sei dankbar, sie dann zur Kita bringen und von dort abholen zu können. Der Familienvater betont: „Ich bin wirklich ein Gewinner der Flexibilität des Homeoffice.“

So wie Kraus geht es einem Großteil der Chemiebeschäftigten, die mobil arbeiten, also die Möglichkeit haben, zumindest teilweise von zu Hause oder einem anderem, frei gewählten Ort aus zu arbeiten und dafür nicht im Betrieb sein zu müssen. Viele bewerten die bessere Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben als großen Pluspunkt. Das ist das Ergebnis der deutschlandweit größten Studie zum mobilen Arbeiten, an der knapp 21.000 Chemie­be­schäf­tig­te aus 66 Betrieben im Frühjahr und Sommer dieses Jahres teilnahmen.

Foto: Stefan Koch

Es gibt tarifpolitisch noch viel zu tun.

Oliver Heinrich,
IGBCE-Tarifvorstand

Um herauszufinden, wie die Realität mit Homeoffice und Co. in der chemisch-pharmazeutischen Industrie aussieht, vereinbarte die IGBCE mit dem Arbeitgeberverband BAVC mit dem Zwischenergebnis der Tarifrunde 2022, die Praxis des mobilen Arbeitens wissenschaftlich begleitet zu erheben. Die bisherigen Erfahrungen sollten unter Beteiligung der Beschäftigten und Unternehmen analysiert und bewertet werden. Schwerpunkte bildeten dabei die Auswirkungen auf Produktivität, Arbeitsorganisation und -inhalte sowie soziale Kontakte. Die wissenschaftliche Leitung lag beim Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO).

Mobiles Arbeiten ist fester Bestandteil des Arbeitslebens

An der Studie beteiligten sich vom „normalen“ Mitarbeitenden bis zur Führungskraft alle Beschäftigtengruppen. Die Ergebnisse bilden primär das Meinungsbild der mobil arbeitenden Beschäftigten ab. In den organisierten Betrieben der Chemieindustrie sind das etwa 16 Prozent der 585.000 Beschäftigten. Die Möglichkeit zu mobiler Arbeit steht in direktem Zusammenhang mit der beruflichen Qualifikation: je mehr Wissensarbeit, desto digitaler und damit mobiler die Arbeit.

„Mobiles Arbeiten ist für viele Chemiebeschäftigte aus ihrem Arbeitsleben nicht mehr wegzudenken“, sagt IGBCE-Tarifvorstand ­Oliver Heinrich. Die Studie zeige deutlich: „Dafür, wieder dauerhaft auf fünf Tage Anwesenheit im Büro zu dringen, gibt es keine Argumente.“ Genau diese Gegenbewegung ist aber derzeit zu beobachten: Gerade die großen amerikanischen IT-Unternehmen wie Amazon, Micro­soft oder Zoom rufen ihre Belegschaften wieder weitgehend ins Büro zurück und drohen teilweise mit Kündigung, falls die Beschäftigten dem Ruf nicht folgen. Tesla-Chef Elon Musk hat das Homeoffice kürzlich „moralisch falsch“ genannt und Wolfgang Gupp, der Chef des Textilunternehmens Trigema, ist der Meinung, dass einer, der im Homeoffice arbeiten könne, unwichtig sei.

Im Gegensatz zur Rückkehr ins Büro fordert die IGBCE etwas anderes: „Wir brauchen klare Regeln für alle Aspekte der mobilen Arbeit, um die Beschäftigten zu schützen“, betont Heinrich. Vieles laufe bereits gut und sei vernünftig geregelt, rund 70 Prozent der teilnehmenden Betriebe verfügten über eine Betriebsvereinbarung. „Aber es besteht auch Handlungsbedarf und gibt tarifpolitisch noch viel zu tun.“ Denn neben vielen Chancen des mobilen Arbeitens spiegeln die Studienergebnisse auch viele ­Risiken wider.

Durchschnittlich arbeiten Chemiebeschäftigte an zwei bis drei Tagen pro Woche mobil – und sie wollen mehr: In der Studie äußern sie den Wunsch nach drei bis vier Tagen mobiler Arbeit wöchentlich. Derzeit arbeitet die eine Hälfte an fixen Tagen mobil, die andere Hälfte an flexiblen Tagen.

Bild: Caro Holzapfel, erstellt mit dem KI-Tool Midjourney

Kraus, Quality-Officer bei Boehringer Ingelheim, arbeitet zwei bis drei Tage zu Hause und könnte tätigkeitsbedingt nicht jeden Tag im Homeoffice arbeiten. Gemeinsam mit seinem Team muss er bei Pro-ble-men jeglicher Art im Herstellungsprozess eingreifen, dokumentiert diese und sucht nach Lösungen, um sie zu beheben. Absprachen sorgen dafür, dass immer jemand aus dem Team vor Ort ist, um bei akuten Pro-ble-men die Kolleginnen und Kollegen im Betrieb zu unterstützen.

In der Studie gaben die Befragten an, dass mobile Arbeit viele Vorteile biete: mehr Produktivität, eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben, eigenverantwortlicheres und zeitlich flexibleres Arbeiten. Positiv bewertet ein Großteil der Befragten beispielsweise die Stressreduzierung durch den Wegfall des Arbeitsweges, mehr Zeit für Familie, Freundinnen, Freunde und Bekannte sowie die Möglichkeit, kleinere private Erledigungen in den Arbeitsablauf einzubauen. Knapp 90 Prozent empfinden mobile Arbeit als störungsfreier. Auch Kraus kann sich beim Arbeiten zu Hause besser konzentrieren und Aufgaben abarbeiten, für die er Ruhe braucht.

Technische Ausstattung variiert

Das mobile Arbeiten eröffne ihm die Möglichkeit, seine Work-Life-Balance zu verbessern. Er und seine Frau, die ebenfalls bei Boehringer Ingelheim beschäftigt ist, jonglieren dadurch ihre Jobs und das Leben mit zwei Kindern im Alter von vier und sechs Jahren leichter. Beide haben zu Hause einen eigenen Arbeitsplatz mit zwei Bildschirmen, der ihnen im Eigenheim die gleiche Arbeitsqualität ermöglicht wie im Büro. „Das hat natürlich nicht jeder“, räumt Kraus ein und hebt die Unterstützung seines Arbeitgebers in Bezug auf mobiles Arbeiten hervor.

Das ist nicht überall so, zeigt die Sozialpartnerstudie. Zwar stellen die meisten Unternehmen die Standardausrüstung fürs mobile Arbeiten, also Notebook oder Laptop, bei weiterer Ausstattung wie beispielsweise Büromöbeln erhält aber nur eine kleine Minderheit betriebliche Unterstützung. Und mehr als ein Viertel der Beschäftigten ist bei der Arbeit zu Hause sogar ausschließlich auf private technische Ausstattung wie Computer und Telefon angewiesen. „Die Einrichtung eines mobilen Arbeitsplatzes scheint in einigen Betrieben Privatsache zu sein. Das birgt das Risiko, dass Beschäftigte aus unteren Einkommensgruppen sich mobiles Arbeiten gar nicht leisten können“, so Heinrich. Auch ergonomische Gestaltung und Fragen rund um gesundes mobiles Arbeiten dürften nicht ausschließlich den Beschäftigten überlassen werden. Er fordert: „Wir brauchen tarifliche und betriebliche Rahmenbedingungen, die es allen Beschäftigten ermöglichen, gesund mobil arbeiten zu können.“

Studie zum mobilen Arbeiten

Fragen an mobil Arbeitende

Wie viele Tage in der Woche arbeiten Sie derzeit durchschnittlich mobil?

Wie viele Tage in der Woche wünschen Sie sich, mobil zu arbeiten?

(Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ohne Führungsverantwortung, Prozentangaben gerundet)
Quelle: Mobile Arbeit – Sozialpartnerstudie 2023, IGBCE

Welche der folgenden Auswirkungen haben sich durch das mobile Arbeiten bemerkbar gemacht?

Stellt der Arbeitgeber Ihnen gegenwärtig für das mobile Arbeiten Ausstattungsgegenstände zur Verfügung beziehungsweise gewährt er eine finanzielle Unterstützung für den Kauf konkreter Gegenstände?

(Mehrfachnennungen möglich, Prozentangaben gerundet)
Quelle: Mobile Arbeit – Sozialpartnerstudie 2023, IGBCE

(Mehrfachnennungen möglich, Prozentangaben gerundet)
Quelle: Mobile Arbeit – Sozialpartnerstudie 2023, IGBCE

Ein Ergebnis der Studie ist außerdem, dass das Risiko von Entgrenzung von Arbeit und Privatleben bei zunehmender mobiler Arbeit steigt. Das sieht ein Viertel der Beschäftigten und ein Drittel der Führungskräfte so. Gleichzeitig bieten die Betriebsparteien hier bisher kaum Lösungen an. Heinrich betont: „Wir müssen der wachsenden Entgrenzung von Arbeit und Privatem entgegenwirken, der Schutz der psychischen Gesundheit darf nicht allein Privatsache sein. Festgelegt und respektiert werden müssen deshalb neben Zeiten der Erreichbarkeit beispielsweise auch Zeiten der Nichterreichbarkeit.“

Für Silke Laabs, Teilzeitkraft im Controlling bei dem Verpackungshersteller Wipak im niedersächsischen Walsrode, ist die zeitliche Flexibilität des mobilen Arbeitens ein zweischneidiges Schwert. Obwohl sie keinen langen Arbeitsweg habe, verbessere schon diese Ersparnis ihr Zeitmanagement positiv. Auch kleine Alltagsprobleme wie Anlieferungen ließen sich im Homeoffice leichter lösen. „Oftmals geben Speditionen ein sehr langes Zeitfenster für ihre Lieferungen an, das man nicht mal eben mit früher Schluss machen abfangen könnte“, erklärt sie. Andererseits kritisiert sie, dass diese Freiheiten zur Hürde werden können, wenn sie zu sehr ausgereizt werden. „Es gibt Kolleginnen und Kollegen, die nicht nur die Arbeit nach Hause verlagert haben, sondern auch die Zeiten, in denen sie erreichbar sind, stark verändert haben. Und das macht die Kommunikation schwierig.“

Absprachen im Büro sind unkomplizierter.

Silke Laabs,
Angestellte
bei Wipak

45 Prozent der Befragten in der Studie gaben an, keine oder weniger Pausen bei mobiler Arbeit zu machen. Die Tendenz kennt auch Kraus. Schwierig sei für ihn vor allem die hohe Termindichte: „Du bist eben noch in einem digitalen Thema gefangen und musst danach direkt zu einem Personalgespräch, musst ganz schnell umschalten, weil Termin an Termin liegt.“ Im Betrieb lag immerhin noch ein Fußweg zwischen den Terminen, im Homeoffice fällt diese Transferzeit weg.

Bei der Hälfte der Befragten führt mobile Arbeit zu Überstunden. Ein nicht unerheblicher Teil davon wird aber nicht erfasst, zum Teil aus gefühlter Verpflichtung gegenüber dem Unternehmen, zum Teil, weil entsprechende Arbeitszeiterfassungssysteme fehlen. „Unser Appell lautet klar: Auch mobile Arbeitszeit muss erfasst werden!“, sagt Heinrich. „Hier könnte die chemische Industrie Vorreiter werden, sowohl bei der flexiblen Gestaltung als auch bei der digitalen Erfassung.“ Denn es besteht jetzt schon ein Verpflichtung dazu, die Arbeitszeit zu erfassen.

Bei längerer und sehr umfangreicher mobiler Arbeit wächst zudem die Gefahr der Verschlechterung von sozialen Kontakten: Mobile Arbeit führt zu weniger sozialem Austausch und kann sich zumindest längerfristig negativ auf Produktivität, Zusammenarbeit und betriebliche Bindung auswirken. Diese „soziale Erosion“ schreitet mit mobiler Arbeit voran. Auch wenn derzeit „nur“ 19 Prozent von einer Verschlechterung des Zusammenhalts im Team sprechen, kann sich dieser Effekt auf lange Frist verstärken. Auf den ersten Blick erscheint das womöglich weniger wichtig, da nicht direkt arbeitsbezogen. Auf den zweiten Blick aber ist das hochrelevant, da das soziale Miteinander eben auch ein wichtiger „Klebstoff“ ist und Zusammenarbeit, Hilfe und Bindung bedeutet.

Mobile Arbeit in anderen Branchen

Eine Umfrage unter IGBCE-Betriebsrätinnen und -Betriebs­räten zeigt: Auch in anderen Branchen wie der Glas­industrie, dem Bergbau oder der Kunst­stoff­produktion kommt mobiles Arbeiten weit verbreitet zum Einsatz, vorwiegend für Beschäftigte im administrativen Bereich. Der Betriebsrat des hessischen Kunststoffherstellers Hewi gab beispielsweise an, von 550 Beschäftigten könnten etwa 300 Homeoffice in Anspruch nehmen. Spezielle Vereinbarungen legen in den Betrieben jeweils fest, wie häufig Beschäftigte von zu Hause aus arbeiten dürfen. Üblich sind zwei Tage pro Woche.

Stimmen aus anderen Branchen zu mobilem Arbeiten

Spring an die richtige Stelle

Auf persönlichen Kontakt zu verzichten hält auch Silke Laabs, die seit beinahe 39 Jahren bei Wipak arbeitet, für keine gute Idee. Obwohl auch ihre Kolleginnen und Kollegen überwiegend mobiles Arbeiten nutzen, wird auf einen festen gemeinsamen Tag in der Woche Wert gelegt: Dienstags hat sich das ganze Team zu Präsenz verpflichtet. Diese Abmachung ist eine Voraussetzung dafür, dass sich das Arbeitsklima trotz mobiler Arbeit nicht verändert hat und sie mit ihren direkten Kolleginnen und Kollegen in Walsrode in engem Austausch bleiben kann, wie sie findet.

Vier Tage von zu Hause aus

Das ist umso wichtiger, weil Laabs’ Arbeit ohnehin vorwiegend in Excel stattfindet und ihre Arbeitskontakte sich europaweit verteilen. Ein Großteil ihrer Kommunikation läuft unabhängig von ihrem Arbeitsort digital ab, die Tätigkeit im Home­office unterscheidet sich dadurch kaum von der Arbeit im Büro.

Die 54-Jährige nutzt das Home­office­an­ge­bot phasenweise mal mehr, mal weniger. Grundsätzlich wäre es ihr freigestellt, bis zu vier Tage pro Woche von zu Hause aus zu arbeiten. Ob sie ins Büro fährt oder im Homeoffice bleibt, macht sie unter anderem vom Wetter abhängig. Mit dem Fahrrad bei Regen oder bei Glatteis zur Arbeit zu fahren bleibt ihr im Homeoffice erspart. Absprachen seien jedoch im Büro unkomplizierter, weil sie persönlich und nebenbei getroffen werden können: „Das ist schon der Vorteil, wenn man direkt auf Arbeit ist“.

Und damit zeigt sich auch eine der wichtigsten Erkenntnisse der Studie: Sinnvoll ist ein Mix aus mobiler und betrieblicher Arbeit.