Arbeit & Gesellschaft

Kompass

Auslese war gestern

Text Lars Ruzic – Illustration Eugen Schulz

Steckt Deutschland in der Demografiefalle? Über die zwiespältige Zukunft des Arbeitsmarkts diskutiert der IGBCE-Vorsitzende Michael Vassiliadis im neuen „Kompass“ mit Andrea Nahles, Chefin der Bundesagentur für Arbeit.

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Bevor wir uns mit den langfristigen Trends am Arbeitsmarkt beschäftigen wollen, messen wir erst mal den Puls. Wie steht es um die übliche Belebung im Herbst, Andrea?

Andrea Nahles: Es gab eine Herbstbelebung, aber es war die schwächste seit Langem. Auch merken wir, dass die Einstellungsbereitschaft der Unternehmen sinkt, gleichzeitig nimmt die Zahl der Kurzarbeitenden wieder etwas zu. Das alles sind für uns Indikatoren dafür, dass sich die schwache Konjunktur langsam auch auf dem Arbeitsmarkt niederschlägt. Gleichwohl ist er auch im internationalen Vergleich noch relativ stabil. Das liegt daran, dass der Fachkräftemangel die konjunkturellen Effekte zum Teil auffängt. Wir erleben aktuell eine steigende Arbeitslosigkeit bei 1,7 Millionen offenen Stellen. Angebot und Nachfrage zusammenzubringen wird immer schwieriger: Bei den offenen Stellen werden in vier von fünf Fällen Fachkräfte gesucht. Aber mehr als die Hälfte der Jobsuchenden haben ein Helferprofil.

Foto: Bundesagentur für Arbeit (BA)

Andrea Nahles, geboren 1970, ist seit Mitte 2022 Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit. Zuvor war die frühere SPD-Parteivorsitzende Präsidentin der Bundesanstalt für Telekommunikation. Von 2013 bis 2017 war die studierte Politikwissenschaftlerin Bundesministerin für Arbeit und Soziales. Einen Schwerpunkt ihrer Arbeit sieht die ausgewiesene Arbeitsmarktexpertin in der Sicherung von Arbeits- und Fachkräftebedarfen sowie bei den Themen Digitalisierung und Automatisierung.

Wie sieht es in den Industrien der IGBCE aus, Michael?

Michael Vassiliadis: Die deutsche Industrie hat mehrere Krisen relativ unbeschadet überstanden, sei es die Finanzkrise, sei es Corona. Da war Arbeitsplatzabbau in der Breite kein Thema. Das ist nun vorbei. Zu den konjunkturellen Problemen kommen strukturelle, die viele Jahre vernachlässigt wurden, und natürlich die Energiepreiskrise. Wir sehen Investitionszurückhaltung schon seit Jahren, nun zunehmend auch Investitionsverlagerung. Das alles sind keine guten Rahmenbedingungen für unsere Industrien, die wir als IGBCE betreuen. Ich erwarte für sie im kommenden Jahr kein Wachstum der Beschäftigung.

Nahles: Insgesamt wächst die Beschäftigung noch. Aktuell haben wir 218.000 Beschäftigte mehr als im letzten Jahr – übrigens ausschließlich ohne deutschen Pass. Aber dieser Aufwuchs schmilzt seit Monaten in sich zusammen. Die Arbeitgeber sind zwar vorsichtig beim Personalabbau, aber zusehends eben auch beim Aufbau. Ich glaube, es mangelt insgesamt an Zuversicht, dass und wie sich die Lage bessern kann. Das gilt auch und gerade für die Industrie, von der ich nichts Gutes höre.

Vassiliadis: Tatsächlich gibt es zu viele unbeantwortete Strukturfragen, um Zuversicht aufkommen zu lassen Energie, Standortfaktoren, Infrastruktur und so weiter. Was aber auch nicht sein kann: dass die Personalverantwortlichen in Sonntagsreden über den Fachkräftemangel klagen und dann am Montag zu Rationalisierungsverhandlungen einladen. Das machen wir nicht mit. Helfen kann im Krisenfall das bewährte Mittel der Kurzarbeit. Und ich denke, das wird jetzt auch noch weiter zunehmen. Gerade in den energieintensiven Branchen, die unter den hohen Kosten leiden, werden zunehmend Anlagen vom Netz genommen, die Verluste machen. Das müssen wir dann mit Kurzarbeit überbrücken. Personalabbau darf erst das letzte Mittel sein.

Automatisierung
küsst Demografie.

Andrea Nahles,
Chefin der Bundesagentur für Arbeit

Wie lassen sich mit Blick auf die demografische Herausforderung Rationalisierung und Fachkräftemangel zusammenbringen?

Vassiliadis: Unternehmen haben in unserer sozialen Marktwirtschaft viele Freiheiten, aber eben auch Verantwortung. Das gilt auch und gerade für ihre Personalpolitik. Nicht bei jedem passt das zusammen. Etwa, wenn manche wehklagend nach Fachkräften rufen, gleichzeitig aber nicht daran denken, in diese Menschen auch zu investieren. Unlängst beklagten sich einige Unternehmer bei mir über die junge Generation, die nicht gewillt sei, in ihren Fabriken fernab der urbanen Zentren Vollkonti-Schicht zu arbeiten. Als ich die Frage stellte, was sie denn dafür täten, als Arbeitgeber attraktiver zu werden, blickte ich nur in verständnislose Gesichter.

Womit wir bei der Generation Z wären. Ihre Jobchancen sind groß, ihr Interesse an Arbeit gering, monieren böse Zungen.

Nahles: Unsere Erfahrung ist, dass die Jugendlichen in der Berufswahl heute viel unsicherer sind als frühere Generationen und auch die ganze Breite der Möglichkeiten gar nicht kennen. Als ich neulich einen Abschlussjahrgang meiner alten Realschule besuchte, fragte ich in die Runde, wer denn schon wisse, was er mal werden wolle. Es meldeten sich gerade fünf von etwa 80 Leuten. In meinem Abschlussjahrgang war das Verhältnis nahezu umgekehrt. Wir müssen also dringend mehr Wissen vermitteln vor allem auch den Eltern. Wir haben deshalb digitale Elternabende entwickelt, in denen die ganze Bandbreite der Ausbildung aufgezeigt wird. Das war so erfolgreich, dass wird das jetzt in großem Stil ausrollen wollen. Noch ein Wort zur Demografie: Ich bin überzeugt davon, dass wir dem wachsenden Fachkräftemangel mit technischem Fortschritt begegnen können. Automatisierung küsst Demografie. Wenn wir sie intelligent einsetzen, kann sie ein Stellhebel zur Lösung des Problems sein. Gleichzeitig müssen wir schlummernde Potenziale in der Bevölkerung heben. In der Altersgruppe der 25- bis 34-Jährigen gibt es 1,9 Millionen Menschen ohne Berufsabschluss das geht gar nicht. Bei der Beschäftigung von Frauen sind wir inzwischen auf Platz fünf in Europa, da waren wir mal Schlusslicht. Das ist schon gut, aber da geht noch mehr. Ähnlich bei der Zuwanderung: Hier sind wir offensichtlich weit weniger attraktiv, als manche glauben. Ein Beispiel: 2021 hatten wir 1,14 Millionen Menschen, die zu uns gekommen sind. Aber 750.000 haben uns auch wieder verlassen.

Vassiliadis: Andrea hat einen wichtigen Punkt angesprochen, den Einsatz moderner Technologie und die Chancen verstärkter Digitalisierung. Tatsächlich haben auch wir in der IGBCE einen offenen Blick auf diese Entwicklung, eben weil der demografische Wandel auch hier das Spiel komplett ändert. Die Gewerkschaften waren ja schon einmal Treiberinnen der Automatisierung, quasi bis Anfang der 1970er-Jahre hinein. Weil sie nämlich Arbeitserleichterung brachte. Erst die Phase der Massenarbeitslosigkeit hat diesen Trend zur Bedrohung werden lassen. Nun aber schlägt das Pendel wieder in die andere Richtung. Natürlich muss der Einsatz ordentlich geregelt und begleitet werden. Aber tatsächlich bewegen wir uns auf eine Zeit zu, in der die Chancen der Automatisierung wieder in den Vordergrund treten.

„Bewegung auf allen Seiten nötig“: Andrea Nahles (r.) im Gespräch mit Moderatorin Lea Karrasch und Michael Vassiliadis.

Foto: Andrea Vollmer

Viele junge Leute bleiben ohne Ausbildungsplatz, während viele Betriebe händeringend Auszubildende suchen. Wie kann man Herr des Problems werden?

Vassiliadis: Auch hier braucht es ein Umdenken und Umsteuern vor allem auch in den Betrieben selbst. Ganze Generationen von Personalmanagern sind unter dem Primat der Selektion ausgebildet worden. Sie kennen nichts anderes als Auslese, selbst die Bewerbungsprozesse und die zugrunde liegende IT sind darauf ausgerichtet. Das alles funktioniert so nicht mehr. Das ganze System muss sich mehr vom Fordern zum Fördern entwickeln. Wir machen das in der Chemieindustrie in einem Projekt mit Menschen, die auf dem Papier nicht ausbildungsfähig sind, und auch mit Geflüchteten. Sie werden ein Jahr fachlich und pädagogisch auf die Ausbildung vorbereitet. Und siehe da: Der weit überwiegende Teil macht am Ende den Berufsabschluss.

Nahles: Genau diese Entwicklung beobachten wir auch. Ich appelliere deshalb an beide Seiten: an die Jugendlichen, sich auch anderen, neuen Berufen zu öffnen. Aber eben auch an die Unternehmen, sich für die Menschen zu öffnen, die sich bei ihnen bewerben. Das beginnt schon bei den Ausschreibungen. Wie kann es sein, dass nur 60 Prozent von ihnen überhaupt offen für Hauptschülerinnen und -schüler sind? Das ist nicht in Ordnung in Zeiten des Fachkräftemangels. Zumal wir als Arbeitsagenturen die Unternehmen mit unserem Programm der Einstiegsqualifizierung bei der Ausbildung von Schwächeren enorm unterstützen können. Da ist wirklich Bewegung auf allen Seiten nötig, denn das Problem des so genannten Missmatches wächst.

Müssen wir alle länger arbeiten, weil Fachkräfte knapp sind?

Nahles: Nur ein paar Fakten dazu. Das Renteneintrittsalter geht seit 2015 kontinuierlich nach oben, wir stehen heute bei 64,4 Jahren. Das Erwerbsalter ist also stark gestiegen, das entlastet bereits den Arbeitsmarkt und die sozialen Sicherungssysteme. Besonders interessant: 1,3 Millionen Menschen arbeiten nach der Rente weiter. Auch, weil sie Sinn und Erfüllung in ihrer Arbeit sehen und sagen, sie haben noch viel weiterzugeben an die Jüngeren. Sie tun dies übrigens zu 90 Prozent in ihrem alten Betrieb. Das allein zeigt, wo Unternehmen auch auf freiwilliger Basis noch Potenziale schöpfen könnten.

Vassiliadis: Diese Debatte wird fast ausschließlich getriggert durch Wissenschaftler, die sich mit Versicherungsmathematik mehr auskennen als mit der Lebensrealität der Menschen. Gerade für körperlich oder in Schicht arbeitende Menschen ist das gar nicht zu erreichen. Ich denke auch, dass wir mit flexibleren Modellen allen gerecht werden. Die Menschen dürfen nur nicht gezwungen werden.

Andrea Nahles, Michael Vassiliadis: Wir danken für dieses Gespräch.

IGBCE Kompass: Den neuen Polit-Talk mit Michael Vassiliadis und Gast kannst du in voller Länge nicht nur in der digitalen Ausgabe dieses Magazins sehen und hören, sondern auch über die „Meine IGBCE“-App, im Web bei igbce.de sowie auf dem Youtube-Kanal deiner Gewerkschaft und auf allen gängigen Podcast-Plattformen. Dort lässt er sich auch leicht abonnieren.