Tess Günther durchlief das Programm „Start in den Beruf“ – und ist jetzt Auszubildende bei Bayer in Dormagen.
Sprungbrett ins Labor
Der Schulabschluss ist geschafft – doch was dann? Das Programm „Start in den Beruf“ will Teilnehmende in eine passende Ausbildung bringen. Unternehmen wie Bayer in Dormagen profitieren, weil sie Fachkräfte gewinnen.
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Tess Günther, 21 Jahre alt, hantiert mit dem Vierhalskolben, als hätte sie nie etwas anderes gemacht. Mit ruhiger Hand füllt die Auszubildende bei Bayer in Dormagen Flüssigkeiten in den Kolben, analysiert die entstandene Mischung auf ihre chemischen Eigenschaften. Vertraute Abläufe.
Vor gut zwei Jahren hätte sie sich das noch nicht zugetraut: Im Frühsommer 2023 hat Tess Günther aus Grevenbroich gerade ihr Abi in der Tasche. Mit einem Schnitt von 2,5 – gar nicht übel. Wie heißt es in den Reden bei der Zeugnisverleihung? „Die Zukunft steht euch offen!“ Für Tess Günther fühlte es sich jedoch ganz anders an. „Ich wusste nicht, was ich nach der Schule machen sollte“, erinnert sie sich an diese Zeit. Interesse hatte sie an Naturwissenschaften, vor allem an Chemie. „Ich hatte immer Spaß im Unterricht. Vor allem, wenn es ans Experimentieren ging.“ Dennoch zögerte sie, sich für einen Ausbildungsplatz zu bewerben. Irgendwann war es dafür dann zu spät. Woran es ihr rückblickend vor allem gefehlt habe, um rechtzeitig einen beruflichen Weg einzuschlagen? „An Orientierung und Selbstbewusstsein, um den Sprung ins kalte Wasser zu wagen.“
Wie „Start in den Beruf“ abläuft
In einem eigenen Laborraum führen die am Programm „Start in den Beruf“ Teilnehmenden Versuche durch und analysieren die Ergebnisse.
Sanfter Einstieg
Während eines Besuchs bei der Agentur für Arbeit erhielt Tess Günther von einer Mitarbeiterin den goldenen Tipp: Wenn es in der ersten Runde mit einem Ausbildungsplatz nicht klappt, aus welchen Gründen auch immer, bietet das Programm „Start in den Beruf“ eine zweite Chance – und einen sanften Einstieg. „Start in den Beruf“ ist eine Initiative der IGBCE und des Bundesarbeitgeberverbands Chemie (BAVC). Seit 2000 verfolgt sie das Ziel, Jugendliche zu fördern, die noch keinen Ausbildungsplatz gefunden haben – egal, ob sie sich erfolglos beworben haben, ihr Abschlusszeugnis nicht gut genug war, ihnen für die Ausbildung benötigte Qualifikationen noch fehlen oder sie, wie im Fall von Tess Günther, zu lange gezaudert haben.
In Deutschland beteiligen sich aktuell dreizehn Arbeitgeber an „Start in den Beruf“, pro Jahr profitieren rund 250 junge Menschen von der Initiative. Speziell für kleinere Unternehmen existiert ein eigenes Programm namens „StartPlus“.
UCI
Der Unterstützungsverein der chemischen Industrie (UCI) besteht seit 1975 als eine gemeinsame Einrichtung der beiden Tarifpartner BAVC und IGBCE. Sein Ziel ist es, Menschen in den Betrieben in Notlagen zu unterstützen sowie zu ermöglichen, dass Menschen den Weg in die Unternehmen finden. Neben den Projekten „Start in den Beruf“ und „StartPlus“ bietet der UCI unter anderem das Programm „PreStart“, das Geflüchtete in den Arbeitsmarkt integriert.
Zu den Unternehmen, die bei dem Programm dabei sind, zählt Bayer in Dormagen. Die Erfolgsquote ist beachtlich: Achtzig Prozent der Teilnehmenden bekommen danach einen Ausbildungsplatz. Während der Zeit im Programm erhalten die jungen Leute einen Zuschuss zum Lebensunterhalt in Höhe von 520 Euro. Die Hälfte davon zahlt der jeweilige Betrieb, die andere Hälfte übernimmt der Unterstützungsverein der chemischen Industrie (UCI), der gemeinsam von der IGBCE und dem Arbeitgeberverband getragen wird (siehe Infokasten).
Ein Starthilfeprogramm gibt es bei Bayer in Dormagen bereits seit 1988; rund 2.000 junge Menschen haben davon profitiert. Seit 2000 ist es an die Initiative „Start in den Beruf“ angegliedert. Bei der Auswahl schaut das Unternehmen sehr genau auf die persönliche Situation der Bewerberinnen und Bewerber. „Wir wollen Teamplayer. Auch Disziplin und ein respektvoller Umgangston spielen eine Rolle“, sagt Michael Elbel, 57, seit vielen Jahren im Bayer-Betriebsrat und dort für das Thema Ausbildung zuständig. Das letzte Zeugnis sei hingegen nicht entscheidend. Lediglich eine Fünf in Mathe werde nicht so gern gesehen. „Schließlich bieten wir naturwissenschaftliche Berufsbilder an.“
Durch das Programm geht’s bei mir voran.
Tess Günther, Auszubildende
Aufbau des Programms
Aufgeteilt ist das Programm in Phasen innerhalb und außerhalb des Betriebs. Insgesamt zehn Wochen verbringen die Teilnehmenden bei Bayer. Den Ansatz beschreibt Michael Elbel mit den Worten „Lernen durch Tun“: „Es geht darum, dass die jungen Leute erfahren, worum es im Betrieb geht. Welche Abläufe wichtig sind. Und was man zu leisten hat.“ Heißt auch: Die Kolleginnen und Kollegen bei Bayer haben die Aufgabe, sich den Teilnehmerinnen und Teilnehmern zu widmen, passende Aufgaben zu verteilen und Fragen zu beantworten. „Wir betrachten sie nicht als Personen in einem Praktikum, die heute da sind und morgen nicht mehr, sondern als potenzielle Kolleginnen und Kollegen“, beschreibt es Michael Elbel.
Tess Günther hat nach „Start in den Beruf“ diesen Schritt geschafft. Seit September 2024 lässt sie sich bei Bayer in Dormagen zur Chemielaborantin ausbilden. Das labortechnische Handwerk lernt sie im Ausbildungszentrum des Chemparks Dormagen, einem Areal mit siebzig verschiedenen Chemie-Unternehmen. Das Zentrum wird vom Industriedienstleister Currenta betrieben. Für viele Unternehmen aus dem Chempark übernimmt Currenta die Ausbildung. In dem Flachbau treffen sich die Auszubildenden, aber eine Glastür entfernt auch die Teilnehmenden des nächsten Jahrgangs von „Start in den Beruf“. Was dazu führt, dass Tess Günther in ihrer gerade begonnenen Ausbildung immer wieder an die Zeit erinnert wird, als sie am Programm teilnahm. „Und es sind schöne Erinnerungen“, sagt sie über die Zeit, in der sie ihren Wunschberuf fand.
Rund 25 junge Menschen aus vielen der im Chempark tätigen Unternehmen nehmen Jahr für Jahr an „Start in den Beruf“ teil. Tess Günther war in ihrem Jahrgang die einzige Frau. „Auch deshalb war ich zu Beginn noch recht schüchtern, aber das hat sich bald gelegt, weil wir uns als Gruppe gefunden haben“, sagt sie. Was das Miteinander besonders machte, war die Vielfalt: „Es gab bei uns alles, von Jungs, die mit Ach und Krach ihren Hauptschulabschluss geschafft haben, über handwerklich Begabte mit Problemen in Mathe bis zu einer Abiturientin wie mir.“ Viel wird über Diversität geredet, Tess Günther hat sie erlebt. Und davon profitiert. Was die Gruppe zudem auszeichnete: „Niemand fühlte sich als etwas Besseres. Wir saßen alle in einem Boot.“
Akkurates Arbeiten im Labor:
Versuch mit Vierhalskolben
Als Betriebsrat ist Michael Elbel auch für die Betreuung der am Programm Teilnehmenden verantwortlich.
Endlich einen Wunschberuf
Zweimal pro Woche findet sich die „Start in den Beruf“-Gruppe in einem Klassenraum gleich neben den Werkstätten und Laboren zum Berufsschulunterricht zusammen. Für Tess Günther der eindeutige Höhepunkt des Programms waren jedoch die insgesamt zehn Wochen, die sie bei Bayer im Betrieb verbrachte. Besonders ihr erster Tag im Labor bleibt unvergessen. „Ich war hin und weg“, sagt sie. „Die Arbeit dort war genau mein Ding, und ich glaube, die Kolleginnen und Kollegen haben das bemerkt, weil sie unglaublich positiv auf mich angesprungen sind.“
Michael Elbel kann das bestätigen: „Es gab an mich die Rückmeldung, dass Tess dank ihrer Neugier und Arbeitseinstellung direkt eine Hilfe war.“ Das sei nicht bei allen Teilnehmenden sofort der Fall: „Einige benötigen länger dafür, den Sinn hinter den Abläufen zu verstehen.“ Und manchmal passe es auch gar nicht.
Auch deshalb gibt die Teilnahme an „Start in den Beruf“ keine Garantie dafür, danach einen Ausbildungsplatz bei Bayer zu erhalten: „Jeder muss sich dafür bewerben. Wobei wir im Vorstellungsgespräch abklopfen, was der junge Mensch an Wissen aus seiner Zeit im Programm mitgenommen hat.“ Tess Günther musste dabei nicht lange überlegen: Sie hatte ihren Wunschberuf als Chemielaborantin gefunden. Zwischen der großen Ungewissheit und einer klaren Vorstellung von der Zukunft lagen bei Tess Günther nur wenige Monate. „Start in den Beruf“ sei Dank.
Die jungen Menschen lernen, Talente zu entdecken.
Michael Elbel, Betriebsrat
Initiative mildert Fachkräftemangel ab
Elbel ist froh, dass die Auszubildende den Weg zu Bayer gefunden hat. Aus menschlichen – aber auch aus pragmatischen Gründen: „Ohne die jungen Menschen, die dieses Programm durchlaufen, hätten wir Schwierigkeiten, unsere Ausbildungsplätze zu besetzen.“ Von den aktuell 48 Azubis bei Bayer Dormagen kommen 13 aus der Starthilfe. Zehn weitere aus der Gruppe sind bei anderen Unternehmen im Chempark untergekommen. „Die Initiative ist also eine wichtige Hilfe im Kampf gegen den Fachkräftemangel“, sagt der Bayer-Betriebsrat.
Er persönlich finde das Projekt deshalb so gut, „weil die jungen Menschen hier lernen, wie der Hase läuft“. Das Problem bei vielen Teilnehmenden sei nicht der fehlende Wille, etwas zu lernen, sondern die Orientierungslosigkeit. „Und vielleicht bei dem ein oder anderen auch die persönliche Reife. Oder das Selbstbewusstsein.“ Alles dies vermittele das Programm. „Die jungen Menschen lernen, Teamplayer zu sein und ihre wahren Talente zu entdecken.“
Während Michael Elbel spricht, entdeckt Tess Günther eine Collage mit Porträtfotos aller Teilnehmenden ihres „Start in den Beruf“-Jahrgangs. Zu fast allen Gesichtern kann sie eine Geschichte erzählen. Dem einen habe sie in Mathe geholfen. Ein anderer habe sie in der Werkstatt unterstützt. Echte Freundschaften seien entstanden, sagt die Auszubildende. „Man freut sich, wenn man sich im Betrieb begegnet. Das Gruppengefühl ist intakt.“
Was sie rückblickend bei „Start in den Beruf“ am besten fand? „Dass das Programm dafür gesorgt hat, dass es bei mir vorangeht.“ Stillstand mag sie nicht. Daher freut sie sich schon auf die Zeit nach ihrer Ausbildung: Zweieinhalb Jahre noch, dann ist sie ausgebildete Chemielaborantin. Und sie will ihren Weg bei Bayer weitergehen.