Vor Ort

Nordost

Nach dem Streik ist vor dem Streik

Text Karin Aigner Fotos IGBCE Nordost

Gehör verschaffen durch einen Streik? Das ist nicht immer einfach und erfordert eine gründliche Vorbereitung. Gewerkschaftssekretär Jan Melzer erläutert, wie eine Streikschulung funktioniert.

Streikende beim Strom- und Gasnetzbetreiber E.DIS im April dieses Jahres.

Bitte nicht stören! Im Betriebsratsbüro der Energieversorgung Halle (EVH GmbH) rauchen Ende Juni vier Stunden lang die Köpfe. Aber diesmal geht es nicht um einen nahen Streik vor den Toren der Firma. Es findet eine Streikschulung statt, um die Kolleginnen und Kollegen für die Zukunft zu wappnen und mit den richtigen Informationen zu versorgen.

Die Vorbereitungen für die Tarifverhandlungen bei dem Energieversorger laufen auf Hochtouren und niemand rechnet damit, dass die Verhandlungen ohne Konflikte zu bewältigen sein werden. Die Beschäftigten sollen rechtzeitig abgeholt werden, um Ärger oder Frust zu vermeiden. Doch wie macht man es richtig?

Genau das vermittelt Gewerkschaftssekretär Jan Melzer vom Bezirk Halle-Magdeburg den sechs engagierten Teilnehmenden in der Streikschulung. Das Echo auf diesen Service seines Bezirks ist groß und positiv – es gilt aber nur für gewerkschaftlich organisierte Beschäftigte. Seit mehr als einem Jahr ist Melzer mit seiner anschaulichen Präsentationsmappe mit der kryptischen Aufschrift „Art. 9 Abs. 3 GG. Anwendung in der betrieblichen Praxis“ unterwegs.

Fundiertes Wissen ist wichtig

Mit deutlichen Worten macht er klar, dass die Wirkung von Streiks von vielen Faktoren abhängt. Dass Streiks ihren Ursprung im Grundgesetz haben und somit vom höchsten Gesetz in Deutschland geschützt sind, führt bei den Teilnehmenden oft zu einem Aha-Effekt. Was zeigt, wie wichtig es ist, rechtlich fundiertes Wissen zu vermitteln. Das hilft durchaus, auch „streikfaule“ Kolleginnen und Kollegen zu aktivieren oder ihnen eventuelle Ängste zu nehmen. Außerdem wird die konkrete Organisation eines Streiks oft unterschätzt – es braucht eine klare Strategie: Wie lauten unsere Forderungen? Wie sind die rechtlichen Rahmenbedingungen? Welche Vorkehrungen sind zu treffen? Wie kann ich andere Beschäftigte einbinden? Wann muss ich den Arbeitgeber informieren? Wer macht die Streikleitung, gibt es Streikgeld? Viele staunen bereits über den Unterschied: Mit einem Warnstreik soll lediglich die allgemeine Streikbereitschaft deutlich gemacht werden. Dagegen dient der „echte“ Streik der Erzwingung eines Tarifvertrags.

Manchmal reicht es, wenn dem Arbeitgeber zu Ohren kommt, dass wir eine Streikschulung machen.

Jan Melzer,
Gewerkschaftssekretär

Ein Streik ist ein starkes Signal

Eine Streikschulung dauert in der Regel circa vier Stunden. Der Bedarf wird von Betriebsbetreuenden oder Verhandlungsführenden festgestellt. Der Schulungsort ist vom Kreis der Teilnehmenden abhängig. So haben Betriebsrätinnen und -räte die Möglichkeit, sich für die Schulung von der Arbeit freistellen zu lassen, sofern die Voraussetzungen erfüllt sind. Für Vertrauensleute und Beschäftigte finden die Schulungen in der Regel außerhalb des Betriebs nach Feierabend statt.

Und über allem steht das eiserne Gesetz: Ein (Warn-)Streik ist immer eine außergewöhnliche Situation. Er soll ein Signal setzen, um ein deutlich spürbares Ergebnis zu erzielen. „Manchmal reicht es, wenn dem Arbeitgeber zu Ohren kommt, dass wir eine Streikschulung machen“, berichtet Jan Melzer aus dem Erfahrungsschatz seines Bezirks. „Dann ist plötzlich eine deutlich erhöhte Kompromissbereitschaft zu erkennen“, sagt er, lächelt und schnappt sich seine Präsentationsmappe.