Arbeit & Gesellschaft

Hintergrundstory

Die Hürden sind zu hoch

Text Isabel Niesmann – Fotos Mandy Klötzer

Weil zu viele Beschäftigte in Rente gehen und zu wenig Nachwuchs nachkommt, wächst die Fachkräftelücke auf dem deutschen Arbeitsmarkt, und das mit jedem Jahr. Die Anforderungen der Unternehmen an die Auszubildenden bleiben aber weiter hoch. Die IGBCE will das ändern. Mit einer Kampagne macht sie Druck für mehr Ausbildungsplätze und einfachere Einstellungsverfahren, um mehr jungen Leute die Chance auf eine Ausbildung zu eröffnen.

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Als Denise vor ihrem Realschulabschluss stand, ging es ihr wie vielen: schlechte Noten und damit eher schlechte Aussichten auf einen guten Ausbildungsplatz. „Gleichzeitig wusste ich gar nicht, in welche Richtung es gehen soll“, erzählt die 22-Jährige. Über ihren Vater, der bereits bei Merck arbeitete, stieß sie schließlich auf das Programm „Start in die Ausbildung“ und bewarb sich dafür bei dem Darmstädter Pharmaunternehmen. Und das war, so Denise heute, die „beste Entscheidung“ ihres Lebens.

Das Programm startete mit einer viermonatigen schulischen Intensivphase, die sich vor allem an diejenigen Teilnehmenden richtete, bei denen die Schulzeit schon länger her war. Im Anschluss ging es darum, mit Berufs- und Persönlichkeitstests Fähigkeiten, Interessen und Ziele zusammenzubringen. Das Resultat bei Denise: Sie passt gut ins Lager. „Auf die Idee wäre ich nie gekommen“, sagt Denise und lacht. „Ich hatte keine Vorstellung von einem Beruf in der Logistik. In meinem Kopf bestand dieser nur aus Staplerfahren. Aber was da alles hinten dranhängt, wie viele Menschen bei einer einzigen Bestellung involviert sind und wie komplex die Systeme sind, das wusste ich nicht.“ Nach dem darauf folgenden mehrmonatigen Praktikum war für sie klar: Sie möchte eine Ausbildung zur Fachkraft Lagerlogistik machen. Ohne formale Bewerbung, nach einem vereinfachten Einstellungstest und einem Gespräch mit dem Ausbilder hatte sie die Zusage von Merck.

Denise Merker: Ihr Weg zum Traumberuf

Zu Beginn ihrer Ausbildung lernte sie den Bereich Packmittelprüfung kennen: „Das war’s direkt. Zu 100 Prozent.“ Jetzt – zwei Jahre nach dem Ende ihrer Ausbildung – prüft sie dort verschiedene Arten von Packmitteln: Ist das 200-Liter-Kunststofffass dicht? Stimmt der Durchmesser der Glasröhrchen? Wurden die Kartons richtig bedruckt? „Ich liebe es, dass ich jeden Tag etwas anderes mache. Ich arbeite am Computer, bin handwerklich tätig, bohre Löcher in Fässer und interagiere mit supervielen Leuten.“

20 junge Menschen nehmen bei Merck jährlich an dem Programm teil. Im Anschluss werden alle, die möchten, vermittelt, die Hälfte direkt bei Merck, die andere Hälfte extern. Das „Berufsfindungsjahr“ erleichtert Orientierung und verbessert die Chancen von – auf dem Papier – schlechter qualifizierten Bewerberinnen und Bewerbern. So auch bei Denise: Auf ihre erste Bewerbung als Chemielaborantin hatte sie von Merck eine Absage bekommen.

Ernüchternde Zahlen

Das Zusammenfallen von schwachen Ausbildungszahlen und Fachkräftemangel wird für die deutsche Wirtschaft immer mehr zu einem Problem. Nur noch jeder fünfte Betrieb bildet überhaupt aus. Die Zahl neu abgeschlossener dualer Ausbildungsverträge ist 2022 zwar im Vergleich zum Vorjahr leicht um 0,4 Prozent auf 475.100 gestiegen, liegt aber noch deutlich unterhalb des Vor-Corona-Niveaus. Ende September 2022 waren knapp 69.000 Ausbildungsstellen unbesetzt, rund 23.000 Bewerberinnen und Bewerber fanden keinen Ausbildungsplatz und 38.000 befanden sich in einer Alternative.

Angekommen: Ohne das Programm wäre Denise Merker nie auf die Idee gekommen, eine Ausbildung in der Lagerlogistik zu beginnen.

Denise Aufgabenfeld in der Lagerlogistik ist sehr vielfältig: Sie prüft verschiedene Arten von Packmitteln.

Standortgefahr Fachkräftemangel

Quelle: IGBCE

Gleichzeitig ist laut Arbeitsagentur die Zahl der Berufe, in denen Fachkräfte fehlen, erneut gestiegen. In jedem sechsten Beruf gibt es nicht genug ausgebildete Arbeitskräfte. Und der Berufsbildungsbericht zeigt, dass die Zahl der Ungelernten zwischen 20 und 35 Jahren weiter gewachsen ist.

Auch in der Chemieindustrie sieht die Lage düster aus: Ende 2022 kamen auf gut 580.000 Beschäftigte rund 25.000 Auszubildende (über alle Ausbildungsjahrgänge). Genauso viele Menschen werden in sehr naher Zukunft demografiebedingt aus dem Berufsleben ausscheiden – und zwar jedes Jahr. „4,3 Prozent, das ist die Ausbildungsquote in der chemischen Industrie im Moment. Das reicht nicht aus, um die demografische Entwicklung auch nur annähernd auffangen zu können“, warnt Francesco Grioli, im IGBCE-Vorstand zuständig für den Bereich Jugend. „Trotz eines um sich greifenden Fachkräftemangels unternimmt die Industrie zu wenig gegen die Ausbildungsmisere.“ Das müsse sich schnell ändern. Andernfalls erreiche der Fachkräftemangel mittelfristig ein Ausmaß, das Industriebetriebe ins Ausland abwandern lasse.

Diese Angst teilt auch ein Großteil der IGBCE-Mitglieder: Laut der im Juni durchgeführten Umfrage des Monats über die „Meine IGBCE“-App zum Thema Ausbildung halten es rund drei Viertel der Befragten (74 Prozent) für sehr wahrscheinlich oder eher wahrscheinlich, dass Nachwuchsmangel und Fachkräftelücke langfristig zu einer Standortgefahr für ihren Betrieb werden (siehe Abbildung Standortgefahr).

Foto: Stefan Koch

Die Industrie unternimmt zu wenig.

Francesco Grioli,
Mitglied im geschäftsführenden
Hauptvorstand der IGBCE

Grioli betont: „Obwohl allen klar ist, dass der Mangel schon jetzt groß ist und in wenigen Jahren dramatisch sein wird, betreiben viele Konzerne bis heute Elitenauslese.“ Oft würden Schulabgängerinnen und -abgänger mit Hauptschulabschluss gleich zu Beginn des Bewerbungsprozesses von der KI der Personalabteilung aussortiert. Nicht einmal die Hälfte von ihnen schafft den direkten Übergang in die Ausbildung. „Das können wir uns nicht mehr leisten. Die Industriemanager, die lange meinten, Olympioniken seien für ihren Betrieb gerade gut genug, müssen endlich von ihrem hohen Ross herunter.“

IGBCE will gegensteuern

Um den Druck auf die Unternehmen zu erhöhen, hat die IGBCE unter dem Motto „Fachkräfte fallen nicht vom Himmel – ohne Ausbildung keine Zukunft“ eine groß angelegte Offensive für mehr Ausbildung in ihren Branchen gestartet. Mit mehr als insgesamt 120 Betriebsvereinbarungen sollen bis Ende 2024 Standort für Standort mehr Plätze geschaffen werden. Darin sollen höhere Zielzahlen für die angebotenen Ausbildungsplätze festgeschrieben werden und die Anforderungen von Stellenausschreibungen, Bewerbungsverfahren und Einstellungstests mit Blick auf Schulabschlüsse den neuen Realitäten angepasst werden. Außerdem sollen sich die Unternehmen verpflichten, selbst mehr in die Aus- und Weiterbildung ihres Nachwuchses zu investieren, etwa in Form von Nachhilfe. Ziel ist es, dass die Betriebe ihren eigenen Fachkräftebedarf über Ausbildung decken können und idealerweise auch über Bedarf ausbilden.

Denn das war früher normal. Und die umliegenden Betriebe hätten davon profitiert, so Grioli. Heute behielten die Großen alle Leute selbst, und der Mittelstand gehe leer aus. „Die Industriekonzerne müssen ihre gesellschaftliche Verantwortung annehmen und mehr über Bedarf ausbilden“, fordert er. Denn zumindest sie finden derzeit noch Auszubildende. Das berichteten auch viele der insgesamt 200 Jugend- und Auszubildendenvertretenden, die an der JAV-Konferenz der IGBCE Mitte Juni in Berlin teilnahmen.

So ist die Lage in den Betrieben

„Noch können wir bei Schott unsere Ausbildungsstellen relativ gut besetzen“, erzählt Theresa Haucke. Schott sei ein Name, das Glasunternehmen mit Sitz in Mainz einer der größten Ausbilder in der Region und die Ausbildung qualitativ gut. Sie wisse aber auch, dass kleinere Glasfabriken sehr viel größere Probleme hätten, Auszubildende zu bekommen und Stellen zu besetzen. Für viele sei die Branche nicht attraktiv. Das liege sicher auch an der Bezahlung. Aber auch Schott stößt bisweilen an seine Grenzen: Wegen fehlender Ausbilderinnen und Ausbilder und zu kleiner Räumlichkeiten könne Schott nicht noch mehr ausbilden. „Vor allem in der Schicht haben wir Probleme, Leute zu finden“, so die 25-Jährige. Weil viele Beschäftigte älter seien und in Rente gingen, gebe es viele offene Stellen. „Wir kommen da nicht hinterher. Das lässt sich durch Ausbildung nicht auffangen“, erklärt Theresa. Generell unternehme das Unternehmen ihrer Meinung nach nicht genug, um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken. Schott könnte zum Beispiel finanziell mehr helfen, wenn Beschäftigte einen Techniker oder ein berufsbegleitendes Studium machen möchten. „Da sehe ich mich nur sehr begrenzt unterstützt“, so die gelernte Physiklaborantin.

Vinzenz Winter macht beim Keramikhersteller Villeroy & Boch in Mettlach eine Ausbildung zum Industriemechaniker. In dem Werk werden hauptsächlich Teller hergestellt und Tassen aus dem Torgauer Schwesterwerk dekoriert und glasiert. „Für uns ist es sehr schwierig, Auszubildende zu finden und zu halten“, berichtet der 21-Jährige. Die Konkurrenz sei groß, der Keramikhersteller nicht der einzige Industriebetrieb in der Gegend. Es gebe wenig junge Leute, die sich für eine Ausbildung im Unternehmen interessierten. „Villeroy & Boch macht schon viel, um die Ausbildung zu bewerben. Aber mehr geht natürlich immer“, findet Vinzenz. Das gelte vor allem, weil auch der Porzellanproduzent aufgrund der Altersstruktur der Beschäftigten bald mit dem Fachkräftemangel zu kämpfen haben werde. „Noch merken wir ihn nicht, er wird aber kommen“, ist sich Vinzenz sicher.

Der Holzmindener Aromenhersteller Symrise bildet rund 50 Auszubildende jährlich aus. „Wir merken, dass es immer schwieriger wird, die Stellen zu besetzen“, erzählt Antonia Trapp. Das gelte vor allem für die technischen und handwerklichen Ausbildungsberufe. Am längsten dauere es bei den Elektronikerinnen und Elektronikern. „Wir versuchen schon, viel in Sachen Ausbildung zu machen, müssten aber noch mehr Ausbildungsplätze anbieten“, findet die Chemielaborantin. Mit der JAV-Arbeit bemühten sie sich, die Arbeitgeberattraktivität zu steigern und etwa mehr gemeinsame Freizeitaktivitäten anzubieten. Die 24-Jährige ist sich sicher: „Wir sind Zulieferer für die Lebensmittelbranche, gelten als systemrelevant und sind deswegen auch für folgende Generationen ein gefragter Arbeitgeber.“ Der demografische Wandel mache sich trotzdem schon jetzt bemerkbar. „Zwar läuft die Arbeit weiter, teilweise aber massiv unterbesetzt. Immer ist jemand im Urlaub, immer ist jemand krank, das muss man auch berücksichtigen.“

Start in den Beruf

Das Förderprogramm „Start in den Beruf“ – bei Merck heißt es unternehmensintern „Start in die Ausbildung“ – von IGBCE und Chemiearbeitgebern eröffnet leistungsschwächeren Schulabgängerinnen und -abgängern eine berufliche Chance und wird aus dem Fonds des Unterstützungsvereins der chemischen Industrie (UCI) finanziert. Seit Programmstart vor 20 Jahren wurden bundesweit in verschiedenen Unternehmen mehr als 5.600 Jugendliche fit für die Ausbildung gemacht. Die bis zu zwölfmonatigen Kurse bestehen aus betrieblicher Praxis, schulischer Phase und sozialpädagogischer Betreuung. Fast 90 Prozent begannen danach eine Lehre. Speziell für kleine und mittelständische Unternehmen gibt es außerdem die Förderprogramme „StartPlus“ und „AusbildungPlus“.

Orientierung geben

Denise Merker betont, dass ihr das Programm „Start in die Ausbildung“ bei Merck viele Türen geöffnet und sie dabei viel über sich selbst erfahren habe: „Wenn ich etwas lerne, an dem ich wirklich interessiert bin, und ich ein klares Ziel vor Augen habe, bin ich viel motivierter als in der Schule.“ Sie könne das Programm allen ans Herz legen, die nicht genau wüssten, was sie machen sollen. Das gelte gerade für Leute, die schon länger aus der Schule raus seien, mit sprachlichen Hürden zu kämpfen hätten oder keinen Schulabschluss hätten. Durch ihre Arbeit in der JAV erfahre sie auch immer mal wieder von Azubis, die nach drei Wochen ihre Ausbildung abbrechen, weil sie es sich komplett anders vorgestellt haben. Davor schütze das Programm.

Denise ist zufrieden. Mit ihrem Job. Und mit ihrer Entscheidung. Als Ausbildungsbeauftragte wirbt sie für das Programm und hofft, dass es noch vielen jungen Menschen den Weg in die Ausbildung erleichtern wird. Zu Ende ist ihr Weg allerdings noch lange nicht. Ihren Ausbilderschein hat sie bereits gemacht. Bald möchte sie vielleicht noch einen Meister draufsetzen.