Die Liste der To-dos ist lang
Die Transformation der Industrie stellt Deutschland vor riesige Herausforderungen. Was hat die Politik jetzt auf dem Zettel? Was muss passieren, um diesen schwierigen Prozess erfolgreich zu meistern? Darüber diskutieren Michael Vassiliadis und Wirtschaftsminister Robert Habeck in dieser Folge von „IGBCE Kompass“.
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Michael Vassiliadis, beim Thema Transformation der Industrie mahnen Sie regelmäßig eine bessere Prioritätensetzung der Politik an. Wie sollte das aussehen?
Michael Vassiliadis: Dazu möchte ich eines vorweg sagen: Wir haben einen Punkt in der gesellschaftlichen Debatte erreicht, an dem die große Mehrheit der beteiligten Akteure über die Zweifel an der Transformation hinweg sind – dafür steht auch die aktuelle Bundesregierung. Damit sind wir schon mal einen guten Schritt weiter als vor fünf oder sechs Jahren. Wenn man das anerkennt, sind wir automatisch bei den zentralen Fragen: Was ist zu tun, wie setzen wir die Transformation der Industrie sinnvoll um? Was müssen wir in welcher Reihenfolge angehen? Das ist eine wichtige Leitplanke für alle, die die Transformation am Ende stemmen müssen, unter anderem die Unternehmen.
Schätzen Sie das auch so ein, Herr Habeck?
Robert Habeck: Ich kann dem nur beipflichten. Viele jammern, wie schlecht wir dastehen. Es gibt aber unglaubliche Qualitäten, die für den Standort Deutschland sprechen und um die uns andere Nationen beneiden. Dazu gehört unter anderem das sozialpartnerschaftliche Zusammenspiel von Gewerkschaften, Arbeitgeberverbänden und Politik. Man trifft sich, man redet miteinander und man hört einander zu – und schafft es so, im Konsens Probleme zu lösen. Bestes Beispiel sind da die Strom- und Gaspreisbremsen aus dem vergangenen Jahr: Die hat die Regierung finanziert, aber durchdacht und entwickelt wurden sie im Dialog mit Gewerkschaften, Wirtschaft und Verbänden.
Robert Habeck, geboren 1969 in Lübeck, ist seit Dezember 2021 Vizekanzler und Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz. Seine politische Karriere bei Bündnis 90/Die Grünen startete 2002, von 2018 bis 2022 war er Parteivorsitzender. Zuvor war Habeck sechs Jahre lang Minister und stellvertretender Ministerpräsident von Schleswig-Holstein, zuletzt leitete er das Ministerium für Energiewende, Umwelt, Landwirtschaft und Digitalisierung. Der promovierte Philosoph setzt sich vor allem für umwelt- und energiepolitische Themen sowie für den Klimaschutz ein.
Wo hakt es denn?
Habeck: In der Vergangenheit haben sich strukturelle Probleme angehäuft, unter denen Deutschland, aber auch alle anderen europäischen Länder leiden. Etwa die überbordende Bürokratie – mit diesen ewig lang dauernden Genehmigungsverfahren haben wir keine Chance, im globalen Wettbewerb zu bestehen. Zusätzlich hemmen Fachkräftemangel und hohe Inflation die Investitionen und damit die Transformation. Das sind alles Hausaufgaben, die wir lösen müssen.
Vassiliadis: Leider können wir den Transformationsprozess nicht unter idealen Rahmenbedingungen durchlaufen. Corona und der Ukrainekrieg haben uns einige zusätzliche Hindernisse auf diesem ohnehin anspruchsvollen Weg eingebrockt. Energie ist teuer – und wird es erst mal auch bleiben. Damit ergeben sich neue Fragen, die ebenfalls beantwortet und priorisiert werden müssen. Etwa, wie die zusätzlichen Kosten verteilt werden müssen, und wie wir eine soziale Balance schaffen.
Wir müssen die Globalisierung neu denken.
Michael Vassiliadis,
IGBCE-Vorsitzender
Und? Lohnt es sich?
Habeck: Die Antwort kann nur sein: Ja, das muss es uns wert sein. Niemand, der bei Sinn und Verstand ist, kann infrage stellen, dass wir in Deutschland beispielsweise eine chemische Industrie und chemische Produkte brauchen. Wir müssten in den vergangenen Jahren doch gelernt haben, dass eine gewisse Souveränität und Autonomie Versorgungssicherheit bedeutet, dass es nicht nur um ökonomische Gesichtspunkte dabei geht.
Vassiliadis: Die Antwort für mich ist ganz klar: Die Industrie hilft Deutschland und Europa und wir brauchen sie. Die Chemie steht beispielsweise in sehr vielen Wertschöpfungsnetzwerken am Beginn der Produktionskette. Eine Verlagerung dieser Kapazitäten würde uns in neue Abhängigkeiten treiben – und nebenbei unzählige, gut bezahlte Arbeitsplätze hierzulande vernichten. Europa und Deutschland haben sich in den vergangenen Jahren von der Idee verabschieden müssen, dass man jedes Produkt oder jeden Rohstoff jeden Tag immer von überallher kriegen kann. Wir wollen die Globalisierung nicht abschaffen, aber wir müssen sie neu denken.
Um Unternehmen im Prozess hin zu klimaneutraler Produktion zu unterstützen, soll es einen Brückenstrompreis für die Industrie geben. Laut einem Gutachten der Stiftung Arbeit und Umwelt ist ein Industriestrompreis mit europäischem Beihilferecht vereinbar.
Vassiliadis: Das Gutachten zeigt deutlich: Rechtliche Bedenkenträgerei ist Unsinn, juristisch ist der Industriestrompreis für energieintensive Industrien möglich. Es kommt jetzt auf den politischen Willen an. Der Industriestrompreis bietet den energieintensiven Branchen eine gewisse Sicherheit. Und wir brauchen so lange einen subventionierten Preis, bis die erneuerbaren Energien und Netze so weit ausgebaut sind, dass der Strompreis auch ohne staatliche Hilfe im Wettbewerb bestehen kann. Neben der zeitlichen Befristung sollte es auch eine inhaltliche Steuerung geben, also die Subventionierung an Transformationsimpulse und auch Tariftreue gekoppelt sein.
Es geht um den langfristigen Umbau des Standorts, um Kreislaufwirtschaft, stabile Wertschöpfungsketten, Innovationskraft. Was muss noch auf die To-do-Liste des Wirtschaftsministers?
Vassiliadis: Europa ist einer der großen Wirtschaftsräume, der international mitspielt. Das Investitionsprogramm der USA erhöht den Druck auf uns. Der zweite Spieler, China, ändert gerade seine Spielregeln. Wir können die Transformation mit Resilienz verbinden, das darf man nicht mit Protektionismus verwechseln, das bedeutet eine Stabilisierung des Wirtschaftsraums. Bislang konnten wir die Lage mit allen möglichen Puffern meistern – wir hatten einen Energiepuffer, einen Geldpuffer und so weiter. Diese Puffer sind jetzt langsam aufgebraucht, die Dinge werden damit komplizierter und teurer. Für uns als Gewerkschaft ist der soziale Ausgleich in der Transformation deshalb ein enorm wichtiger Punkt. Eines muss ich noch anfügen: Wenn man die Balance, das soziale Gleichgewicht in diesem Transformationsprozess vorantreibt, ist man nicht derjenige, der im Weg steht oder Zeitverzögerung will. Sondern man ist derjenige, der die Stabilität der Umsetzung garantieren will. Pragmatismus ist dabei kein Verrat an der Sache.
Wir brauchen in Deutschland eine chemische Industrie.
Robert Habeck,
Bundeswirtschaftsminister
Habeck: Bei nationalen Genehmigungsverfahren sollten wir Schutzgüter – wie Umweltschutz, Emissionsschutz, Gewässerschutz und weitere – zwar nicht infrage stellen, aber die Verfahren müssen verkürzt werden. Wir haben beispielsweise im vergangenen Jahr deutlich Tempo zugelegt beim Ausbau von Stromleitungen, Solar- und Windkraftanlagen. Wir haben dafür die Beteiligungsverfahren nicht abgeschafft, aber deutlich verkürzt von eineinhalb Jahren auf wenige Wochen. Beihilfeverhandlungen auf EU-Ebene sind grundsätzlich extrem kompliziert, weil Europa extrem penibel darauf achtet, dass ein EU-Land ein anderes EU-Land nicht übervorteilt. Das Wettbewerbsrecht ist mit einer binneneuropäischen Logik gebaut worden: Deutschland darf nicht Frankreich, Frankreich nicht Spanien und Spanien nicht Italien übervorteilen. Allerdings ist die Wettbewerbssituation nicht mehr Frankreich gegen Italien, sondern Deutschland gegen USA und Deutschland gegen China. Das europäische Wettbewerbsrecht kann deshalb nicht so bleiben, wie es ist.
Es ist so harmonisch zwischen Ihnen – oder täuscht der Eindruck?
Vassiliadis: Ich kann auch nicht harmonisch, wenn es sein muss. Aber ich erkläre mal, warum man mit dieser Bundesregierung konstruktiv umgehen sollte. Sie hat einen Schritt gemacht, den die Politik vorher nicht gewagt hat. Die Ampel hat einen Kassensturz des Projektes Energiewende gemacht, eine ernsthafte Bestandsaufnahme der Lage, und deutlich formuliert, wo wir stehen. Gefühlt hieß es vorher immer von der Politik: Wir haben das beschlossen, wir sind fast schon fertig mit der Energiewende. Das stimmte aber nicht, nur weil man das behauptete, wurde es ja nicht wahr. Mit dieser konkreten Bestandsaufnahme haben wir als Gewerkschaften nun die realistische Möglichkeit erhalten, mitzugestalten.
IGBCE Kompass: Den neuen Polit-Talk mit Michael Vassiliadis und Gast kannst du in voller Länge nicht nur in der digitalen Ausgabe dieses Magazins sehen und hören, sondern auch über die „Meine IGBCE“-App, im Web bei igbce.de sowie auf dem Youtube-Kanal deiner Gewerkschaft und auf allen gängigen Podcast-Plattformen. Dort lässt er sich auch leicht abonnieren.