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Eine ziemlich runde Sache
Der italienische Pirelli-Konzern hat eine eigene Tochter in Deutschland: In Breuberg im nördlichen Odenwald werden Premiumreifen für Pkw und Motorräder gefertigt. Auch die E-Mobilität hat man dabei im Blick.
Pirelli Deutschland
Dieser Name hat Klang – Pirelli ist eine von Europas größten und bekanntesten Reifenmarken. In Deutschland wird mit der deutschen Konzerntochter seit mittlerweile rund 20 Jahren am südhessischen Standort Breuberg das Premiumsegment für Pkw- und Motorradreifen bedient. Und während bei der Konkurrenz über Stellenabbau diskutiert werden muss, ist hier die Auslastung stabil hoch, auch die Zahl der Beschäftigten liegt seit Jahren auf dem gleichen Niveau. Rund 6,5 Millionen Reifen pro Jahr verlassen das Breuberger Werk. Zudem hat man sich dort schon auf neue Märkte eingestellt – viele E-Autos der Premiumklasse werden mit Pneus aus dem Odenwald ausgestattet, auch in diesem Segment gehört man zu den europäischen Marktführern. In Breuberg ist nicht nur eine Produktion angesiedelt, es gibt auch eine eigene Forschungs- und Entwicklungsabteilung – somit ist man nah dran an den deutschen Automobilherstellern, kann im direkten Austausch arbeiten. Pirelli Deutschland ist dadurch stark im Erstausrüstergeschäft.
Gründung 1903 als Veith & Co, ab 1963 Veith Pirelli GmbH, seit 1986 Pirelli Deutschland
Rechtsform GmbH (mitbestimmt)
Mutterkonzern Pirelli & C. S. p. A., Italien
Produkt Pkw- und Motorradreifen für den High- und Ultra-High-Performance-Bereich
Umsatz 2022 geschätzt: eine Milliarde Euro (2021)
Beschäftigte 2.500
Arbeitsumgebung
Idyllisch ist es in Breuberg, ländlich, grün. Die nächste, knapp 30 Kilometer entfernte Großstadt ist Darmstadt mit rund 160.000 Einwohnerinnen und Einwohnern. Für die Breuberger Bevölkerung ist die naturnahe Lage sicher ein Plus – auf manche Nachwuchskraft dürfte der Standort im nördlichen Odenwald eher wenig attraktiv wirken. In der ländlichen Region stehen junge Bewerberinnen und Bewerber nicht gerade Schlange – sie werfen oft einen Blick nach Darmstadt, wo viele große Unternehmen (unter anderem Merck, Wella, Software AG) ebenfalls Fachkräfte anwerben. Die Ausbildungsplätze können dennoch alle besetzt werden, Pirelli bildet sogar über Bedarf aus. Problematisch ist es eher, handwerkliche Stellen zu besetzen.
Der traditionsreiche Name Pirelli hat aber immer noch Kraft – gerade in der Produktion arbeiten viele Menschen aus der Region. Mit 2.500 Beschäftigten sind die Reifenwerke der größte Arbeitgeber der Kleinstadt. Die Produktion in Breuberg wurde vor rund 20 Jahren von Standardreifen umgerüstet auf Premiumpneus für Pkw und Motorräder. Die hochpreisigen Reifen ermöglichen es, trotz der hohen Lohnkosten in Deutschland gewinnbringend zu produzieren. Seitdem (und wegen einer Standortsicherungsvereinbarung) gilt das Werk in Breuberg als vergleichsweise krisenfest, während bei der deutschen Reifenkonkurrenz Stellenabbau geplant ist.
Betriebsklima
Die Verbundenheit zur Marke am Standort ist vielleicht nicht mehr so stark wie früher, gilt aber weiterhin als hoch. Noch heute heißt es bei vielen Reifenwerkerinnen und -werkern: „Wir sind Pirelli“ und nicht „Wir arbeiten bei Pirelli“.
Unmut gibt es dennoch: So ist ein Stellenabbau von rund 200 Köpfen im indirekten Bereich ab 2019 über Altersteilzeitregelungen zwar ziemlich geräuschlos abgewickelt worden, zugleich wurde die Gesamtzahl der Beschäftigten am Standort über Personalaufbau in Forschung und Produktion stabil gehalten. In den betroffenen Bereichen hat der Abbau aber zu Überstunden geführt. Die können kaum abgebaut werden, auch eine Auszahlung ist nicht vorgesehen – das gilt ebenso für die Beschäftigten in der Fertigung. So verfallen am Ende des Jahres regelmäßig Überstunden. Der Betriebsrat führt bereits Verhandlungen über eine Betriebsvereinbarung, deren Ziel es ist, Überstunden in ein Langzeitkonto überführen zu können. Der Arbeitgeber arbeitet konstruktiv mit, Ende des Jahres soll die Vereinbarung stehen.
Auch hat die körperlich harte Schichtarbeit in der Produktion Auswirkungen – es gibt viele Beschäftigte mit Schwerbehindertenstatus. Über eine Inklusionsvereinbarung gelingt es aber, diese gut in neue angemessene Tätigkeiten zu integrieren. Zudem werden Exoskelette und Hebehilfen eingesetzt, um die Arbeit leichter zu machen.
Mitbestimmung
Hier hat Mitbestimmung Tradition: Seit mehr als 60 Jahren gibt es einen Betriebsrat im Breuberger Werk. Egal auf welcher Ebene der Mitbestimmung, ob betrieblich oder im Aufsichtsrat – bei Pirelli Deutschland läuft das Zusammenspiel von Arbeitgeber- und Belegschaftsseite ziemlich gut.
Geschäftsführung und Betriebsrat haben zwar nicht immer die gleiche Meinung, aber das gleiche Ziel – den Standort mit seinen rund 2.500 Beschäftigten langfristig zu erhalten. Der Arbeitgeber sieht den Betriebsrat nicht als Gremium, das verhindern will, sondern als Interessenvertretung, die konstruktiv mitgestaltet. Dementsprechend sozialpartnerschaftlich läuft die Zusammenarbeit.
Ein 21-köpfiger Betriebsrat (fünf Freistellungen), mehr als 80 IGBCE-Vertrauensleute und eine JAV mit fünf Mitgliedern kümmern sich aktiv um die Belange der Belegschaft, ebenso eine rührige SBV (siehe Inklusionsvereinbarung). Stehen Projekte oder Veränderungen an, wird der Betriebsrat frühzeitig informiert und einbezogen. Im Aufsichtsrat, der paritätisch besetzt ist, funktioniert die Informationsweitergabe an die Seite der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ebenfalls gut. Auch der Einstieg eines chinesischen Großaktionärs vor einigen Jahren hat an der starken Mitbestimmung bei Pirelli Deutschland – bislang – nichts geändert.
Tarifbindung
Pirelli Deutschland unterliegt dem Tarifvertrag für die Kautschukindustrie. Alle Regelungen des Flächentarifvertrags gelten damit auch hier – bis auf eine durchaus schmerzliche Ausnahme: die Wochenarbeitszeit.
Statt der tariflichen 37,5 Stunden pro Woche arbeiten die Beschäftigten bei Pirelli seit mehr als 20 Jahren 40 Stunden pro Woche. Das ist Teil der seit Jahren immer wieder erneuerten Standortsicherungsvereinbarung. Immerhin bedeutet diese „Kröte“ aber auch Jobsicherheit: In der Zukunftsvereinbarung, wie sie bei Pirelli heißt, werden betriebsbedingte Kündigungen während der Laufzeit ausgeschlossen, außerdem werden darin verpflichtende Investitionszusagen gemacht – und dann auch eingehalten. Allein in den vergangenen fünf Jahren flossen so 180 Millionen Euro in den Standort, vor allem in die Entwicklung, neue Anlagen und Weiterbildungen – das ist aktive Zukunftsgestaltung. Die aktuelle Vereinbarung läuft noch bis Ende 2024, eine Anschlussvereinbarung soll folgen. Die Verhandlungen dazu sollen im Sommer 2024 beginnen.
Zukunftsfähigkeit
Man sollte ja vermuten, dass Reifenproduktion einfach „oldschool“ ist. Tatsächlich ist Pirelli in Breuberg ganz gut für die Zukunft gerüstet. Zum einen werden hier neben hochwertigen Motorradreifen seit rund 20 Jahren teure High- und Ultra-High-Performance-Pneus für Pkw hergestellt – ein Segment mit einer treuen und preisunsensiblen Kundschaft sowie anständiger Gewinnspanne.
Neben diesen High-End-Reifen hat der Breuberger Standort auch ein weiteres Standbein beim Thema Elektromobilität erschlossen: Pirelli Deutschland gehört zu den Top‑3-Lieferanten für E‑Autos der Premiumklasse, alle E‑Porsches fahren beispielsweise mit Pirelli-Reifen, auch an Tesla liefert der Standort.
In Sachen Klimaschutz ist Pirelli Deutschland ebenfalls gut unterwegs, produziert einen der energieeffizientesten Pneus am Markt. Auf dem Weg zum „grünen Reifen“ wird aktuell an einer CO₂-neutralen Produktion gefeilt, auch die Gewinnung von Grünstrom direkt auf dem Werkgelände ist geplant. Der Vorteil in Breuberg: Es gibt noch eine eigene Forschungs- und Entwicklungsabteilung am Standort, deren Innovationen im Segment Premiumreifen auch von den internationalen Schwesterunternehmen im Pirelli-Konzern aufgegriffen werden.
Das sagt Pirelli
Der Standort Breuberg zähle zu den „modernsten und leistungsfähigsten Reifenwerken Europas“, so Pirelli. Ein familiäres Arbeitsklima, Smart Working, hochqualifizierte Arbeitsplätze, Weiterentwicklungs- und Qualifizierungsmöglichkeiten, Benefits und Incentive-Systeme seien einige unter vielen Maßnahmen, um Standort und Arbeitsalltag attraktiv zu halten. Um die hohe Arbeitsbelastung für die Beschäftigten abzufedern, bemühe man sich, Prozesse zu verschlanken, den Digitalisierungsgrad zu steigern und Arbeitsbedingungen altersgerecht anzupassen. Über ein Langzeitkonto, über das aktuell verhandelt wird, sei unter anderem eine Flexibilisierung der Lebensarbeitszeit, flexibler Übergang in den Ruhestand sowie eine noch einfachere Realisierung beruflicher Auszeiten geplant.
Unser Fazit
Insgesamt läuft es ziemlich gut mit der Mitbestimmung bei Pirelli Deutschland. Der Arbeitgeber beteiligt den Betriebsrat bei neuen Projekten frühzeitig, auch im Aufsichtsrat kommt er seinen Informationspflichten nach. Es gibt eine fest etablierte sozialpartnerschaftliche Tradition.
Der Wermutstropfen: Über die Zukunftsvereinbarung sind Investitionen und Jobs am Standort gesichert – allerdings müssen die Beschäftigten dafür länger arbeiten, als im Tarifvertrag vorgesehen ist. Immerhin ist eine Betriebsvereinbarung über ein Langzeitkonto für Überstunden absehbar.