Arbeit & Gesellschaft

Kompass

Zeitenwende in der Arbeitswelt

Text Lars Ruzic – Illustration Eugen Schulz

Kollektive Überlastung trifft auf Fachkräftemangel: Über Arbeit, Arbeitsweisen und Arbeitszeiten wird wieder stärker diskutiert. Wie kaputt das System ist, wie es repariert werden kann und welche Rolle dabei Gewerkschaften spielen, darüber sprechen Bestsellerautorin Sara Weber und Michael Vassiliadis in diesem „Kompass“-Talk.

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Der Tag der Arbeit hat seine Wurzeln im großen Streik für den Achtstundentag am 1. Mai 1890. Inzwischen haben die IGBCE und andere Gewerkschaften die Arbeitszeit schon etwas darunter drücken können. Muss da jetzt mehr kommen oder gibt es inzwischen andere Prioritäten für Gewerkschaften?

Sara Weber: Die Arbeitszeitfrage ist sicher nicht das einzige Thema, das uns umtreiben sollte, aber es hat hohe Priorität. Schließlich gibt es einen direkten Zusammenhang zwischen dem Verhältnis von Arbeits- und Freizeit, Wohlbefinden und Gesundheit. Und historisch gesehen wurde Fortschritt durch Produktivitätsgewinne und Technologiesprünge den Menschen meist in Form von Zeit zurückgegeben – auch weil die Gewerkschaften dies erstritten haben. Auch in den vergangenen Jahrzehnten gab es diese Fortschritte, die Auszahlung in Zeit ist jedoch ausgeblieben. Dass wir jetzt darüber reden, wie es mit der Arbeitszeit weitergeht, halte ich daher für wichtig.

Michael Vassiliadis: Natürlich haben wir in der Vergangenheit auch viele Tarifinnovationen rund um Alters­vorsorge, Flexibilität oder Gesundheitsthemen entwickelt. Aber der Kern der Debatte kreiste immer um die Frage des Lohns und der Arbeitszeit. Beides hängt natürlich eng mitein­ander zusammen. Da ist viel passiert seit 1890 – und das ist auch gut so. Aber wir sind an einem Punkt angekommen, wo die Intensität der Arbeit nicht mehr allein durch Urlaub kompensiert werden kann. Das ist ein wichtiger und guter Gestal­tungsauftrag für moderne Gewerkschaften.

Frau Weber, Sie beklagen in Ihrem Buch eine kollektive Überarbeitung und sagen, die Arbeitswelt von heute sei „kaputt“. Was ist da schiefgelaufen?

Weber: Eine ganze Menge. Der technische Wandel sorgt für immer stärkere Arbeitsverdichtung. Immer mehr Menschen haben das Gefühl, da nicht mehr hinterherzukommen. Gleichzeitig ist die Arbeit mehr und mehr ins Privatleben vorgedrungen – nicht nur bei denjenigen, die im Homeoffice arbeiten. Stress und Erschöpfung nehmen zu – und die Menschen geben explizit ihre Arbeit als Grund dafür an. Das kann so nicht weitergehen, sonst sind wir alle irgendwann ausgebrannt – zumal auch die unbezahlte Sorgearbeit im Privatleben zugenommen hat. Wir müssen uns dringend fragen, wie es anders laufen, wie man die Arbeitswelt ein Stück weit reparieren kann.

Foto: Maya Claussen

Sara Weber, geboren 1987, ist Journalistin, Autorin und Digitalstrategin. Ihr Buch „Die Welt geht unter, und ich muss trotzdem arbeiten?“ ist ein Spiegel-Bestseller. Sie studierte Publizistik und Buchwissenschaft in Mainz und besuchte die Deutsche Journalisten­schule in München. Sie arbeitete als freie Autorin unter anderem für Zeit, Süddeutsche Zeitung und Spiegel. Als Redaktionsleiterin von LinkedIn war sie das Gesicht des Netzwerks in Deutschland, bis sie 2021 kündigte. Ihre Kernthemen sind Arbeit, Digitalisierung und Wirtschaft. Die Deutschamerikanerin lebt in München.

Was können Gewerkschaften tun, um die starke Arbeitsverdichtung zu bekämpfen?

Vassiliadis: Wir müssen uns klarmachen, woher wir kommen. Bis vor wenigen Jahren prägte Massenarbeitslosigkeit das Bild und Produktivitätsfortschritte wurden zum Bedrohungsfaktor für Arbeitsplätze. Über Arbeitszeitreduzierung wurde höchstens diskutiert, um möglichst viele Menschen in einer schwierigen Lage in Arbeit zu halten. Das hat sich radikal gewandelt, und wir müssen das Thema neu denken. Arbeitsintensität und Stresslevel sind heute quasi unabhängig vom Beruf extrem hoch. Wir haben Tarifverträge, in denen die Beschäftigten zwischen mehr Geld und mehr freien Tagen wählen können – und selbst die in niedrigen Entgeltgruppen entscheiden sich für mehr freie Tage. Das hat doch einen Grund. Gleichzeitig greift der Fachkräftemangel um sich. Manche Ökonomen gehen an dieses Problem rein mathematisch heran und fordern Mehrarbeit oder „mehr Bock auf Arbeit“. Das ist natürlich eine echte Provokation zumal vorgetragen von Leuten, die noch nie eine Produktionshalle von innen gesehen haben. Denn natürlich reden wir hier über Menschen und nicht über Maschinen. Aber das zeigt nur: Wir stehen erst am Anfang einer Auseinandersetzung. Die Herausforderung ist fundamentaler, als man auf den ersten Blick glauben mag.

„Warum und wofür soll ich mich kaputtarbeiten?“: Michael Vassiliadis, Moderator Lars Ruzic und Sara Weber.

Foto: Christian Burkert

Für viele Junge scheint sich der Stellenwert von Erwerbsarbeit zu verändern, das alte Versprechen „Hart arbeiten für ein besseres Leben“ gilt für sie nicht mehr. Sie haben andere Prioritäten. Wie stellt man sich darauf ein?

Weber: Viele haben bei ihren Eltern oder Bekannten gesehen, was es bedeutet, wenn Leute sich kaputtarbeiten und das nicht nur körperlich in der Fabrik. Das wollen sie einfach nicht genauso erleben. Das gilt übrigens nicht nur für die Jungen. Auch viele Ältere wollen ja gern früher in Rente gehen, um die Zeit noch für sich nutzen zu können. Es ist wichtig, dass sich die Unternehmen darauf einstellen, einfach mal zuhören, nachfragen und herausfinden, was die Beschäftigten wirklich wollen. Oft gibt es ja konkrete Gründe und Notwendigkeiten, warum man anders arbeiten möchte. Bei jungen Menschen kommt häufig hinzu, dass sich für sie das Versprechen von Haus, Garten und zwei Autos sehr weit weg anfühlt. Die Immobilienpreise sind davongaloppiert, ihre Rente ist alles andere als sicher, und mit Blick auf die Klimakrise weiß auch niemand, wie es weitergeht. Angesichts dessen fragen sich schon viele: Warum und wofür soll ich mich kaputtarbeiten? Auf diese Fragen müssen Antworten gefunden werden und das geschieht noch nicht genug.

Vassiliadis: Generationen von Personalverantwortlichen waren es gewohnt, Selektion zu betreiben und Überschuss zu managen. Viele Unternehmen können bis heute nichts anderes. Allein die Frage nach der Qualität von Arbeitsbedingungen finden einige schon unverschämt. Wer sich so verhält, lebt in der Vergangenheit. Dass junge Leute viel stärker die Sinnfrage stellen, kann ich als Gewerkschafter nur begrüßen. Genauso, wie die Unternehmen immer Kundenorientierung predigen, fordere ich Arbeitnehmerorientierung. Ohne Gewerkschaften und Betriebsräte werden die Unternehmen das übrigens nicht hinbekommen, dazu gibt es zu oft sich reibende Interessen zwischen Arbeitgebern und Belegschaften. Wir müssen gemeinsam an Vereinbarungen für mehr Attraktivität arbeiten.

Weber: Ich finde es total gut und richtig, dass junge Menschen sich wirklich aussuchen können, für wen sie arbeiten und unter welchen Bedingungen. Entscheidend ist aber, dass das nicht nur für ein paar wenige gelten darf, sondern auf breiter Basis möglich sein muss. Ansonsten geht die Schere zwischen den Beschäftigten noch weiter auseinander. Mit Blick auf den Fachkräftemangel müssen wir ohnehin alles tun, so viele Menschen wie möglich in Arbeit zu bekommen. Das gilt vor allem für diejenigen, die eigentlich gern arbeiten würden, denen die Rahmenbedingungen es aber schwer machen. Das gilt vor allem für Frauen, die den Großteil der bezahlten Sorgearbeit übernehmen und damit doppelt belastet sind.

Wir können Ungelernte nicht durch den Rost fallen lassen.

Michael Vassiliadis,
IGBCE-Vorsitzender

Vassiliadis: In der Tat ist es absurd, wie kulturell mittelalterlich sich dieses Land in dieser Frage bis heute verhält. Es gibt mehr sehr gut ausgebildete Frauen denn je, aber dieses Fachkräftepotenzial wird einfach nicht richtig erschlossen. Das müssen wir endlich in der Breite diskutieren und ändern. Zweites Thema: Migration. Meinen Vater haben Deutschland und die Industrie 1961 noch angeworben mit Zugticket, Wohnung und Job. Es war also schon alles geregelt, als er ins Land kam. Heute erschweren wir die Einwanderung von Fachkräften bis zum Äußersten, vor allem auch für die Familien der Beschäftigten. Dritter Punkt: Wir haben 2,5 Millionen Menschen in Deutschland ohne Berufsabschluss. Die können wir nicht einfach durch den Rost fallen lassen, sondern müssen sie weiterentwickeln. Das geht auch im höheren Alter noch. Wir müssen schnellstens Konzepte für diese drei Gruppen entwickeln.

Die Fachkräftediskussion, aber auch die gewaltigen Preissteigerungen und die damit verbundenen konfliktreichen Tarifverhandlungen haben die Gewerkschaften wieder stärker ins öffentliche Interesse gerückt. Werden sie ihrer gestiegenen Verantwortung gerecht?

Weber: Es ist gut und richtig, dass die Gewerkschaften jetzt deutliche Lohnerhöhungen aushandeln und dabei mit Festbeträgen vor allem diejenigen stärken, die weiter unten im Verdienstspektrum stehen. Denn sie leiden am meisten unter der Inflation. Insgesamt glaube ich, dass Gewerkschaften sich auch stärker um diejenigen kümmern müssen, die nicht in den klassisch organisierten Berufen und Branchen arbeiten: Beschäftigte in Subunternehmen, Gig-Workers, Pflegekräfte in Haushalten. Diese neuen Formen von Arbeit brauchen auch neue Formen von Organisation.

Vassiliadis: Wir haben seit Jahren eine sinkende Tarifbindung. Das allein ist schon ein Grund, warum weniger Menschen unter ihren Schutz fallen. Da sind die Arbeitgeber und die Politik gefragt, die unterbinden müssen, dass sich immer mehr Unternehmen in Verbänden ohne Tarifbindung organisieren. Aber auch wir selbst müssen ein paar strategische Debatten führen darüber, was gerade passiert mit der Arbeitswelt. Die Frage des Fachkräftemangels und der guten Arbeit muss eine stärkere strategische Bedeutung erhalten und damit der Zeitenwende am Arbeitsmarkt einen gewerkschaftlichen Gestaltungsrahmen geben.

Sara Weber, Michael Vassiliadis: Wir danken für dieses Gespräch.

IGBCE Kompass: Den neuen Polit-Talk mit Michael Vassiliadis und Gast kannst du in voller Länge nicht nur in der digitalen Ausgabe dieses Magazins sehen und hören, sondern auch über die „Meine IGBCE“-App, im Web bei igbce.de sowie auf dem Youtube-Kanal deiner Gewerkschaft und auf allen gängigen Podcast-Plattformen. Dort lässt er sich auch leicht abonnieren.