Arbeit & Gesellschaft

Hintergrundstory

Schwere Bürde für den Standort

Text Inken Hägermann – Fotos Frank Rogner

Die Strompreise sind in Deutschland nach dem russischen Angriff auf die Ukraine durch die Decke gegangen. Das trifft nicht nur Haushalte, sondern auch die energieintensive Industrie. Das Problem: In anderen Ländern kostet Elektrizität nur einen Bruchteil. Gegensteuern ist gefragt, sonst droht ein Exodus.

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Es gibt Zahlen, die liegen außerhalb der Vorstellungskraft. Der ­Strombedarf des Aluminiumproduzenten TRIMET ist so ein Beispiel. Rund sechs Terawattstunden benötigt das Unternehmen im Schnitt pro Jahr. Das ist eine Sechs mit zwölf Nullen. Verständlicher – und beeindruckender wird der Bedarf, wenn man ihn ins Verhältnis setzt. Gut ein Prozent des gesamten deutschen Stromverbrauchs entfällt auf den familiengeführten Mittelständler mit seinen mehr als 1.600 ­Beschäftigten.

„Strom ist ein Rohstoff für uns“, sagt Thomas Flesch, Betriebsratsvorsitzender am Firmensitz in Essen. „Wir benötigen den Strom, um Aluminium herzustellen. Ohne geht es nicht.“ Und ohne Aluminium geht in der heimischen Industrie nichts. Nicht im Auto- oder Maschinenbau, nicht im Leitungs- oder Anlagenbau. Aluminium spielt eine Schlüsselrolle beim Ausbau der erneuerbaren Energien, der Netze und der E-Mobilität. Keine Energiewende, keine Transformation ohne den vergleichsweise leichten Werkstoff.

Seit mehr als einem Jahr allerdings liegt der Stromverbrauch von TRIMET deutlich unter dem Durchschnitt. Schon bald nach dem Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine und der Preisexplosion am Strommarkt hat das Unternehmen seine Produktion drastisch gedrosselt. „Zwei Drittel unserer Öfen an unserem größten deutschen Standort Essen sind abgestellt, ebenso an den weiteren deutschen Standorten Hamburg und Voerde“, berichtet Flesch.

Industriestrompreise im Vergleich (Prognosen)

jeweils pro kWh | Quelle: eigene Berechnungen auf Grundlage von EEX-Future-Preisen

Viermal so teuer wie in den USA

Womit wir beim Problem wären: Der heimische Strompreis ist davongaloppiert. Die Folgen des Kriegs spürt Deutschland nicht nur beim Gaseinkauf, sondern auch bei Elektrizität – ausgerechnet der Energieform, die im Zentrum der klimagerechten Energiewende steht. Dreimal so teuer wie in Frankreich, viermal so teuer wie in den USA, siebenmal so teuer wie in China: So wird sich das deutsche Preisniveau beim Strom über Jahre einpendeln (siehe Grafik).

„Unsere horrenden Energiekosten haben sich zur schwersten Bürde für den Industriestandort Deutschland entwickelt“, sagt der IGBCE-Vorsitzende Michael Vassiliadis. Niemand leide darunter mehr als die energieintensiven Branchen, für die Strom, Gas und Öl oft der größte Kostenblock seien. „Wir müssen ihnen dringend Rahmenbedingungen bieten, die sich auf Augenhöhe mit denen anderer Industrienationen bewegen.“

Das Problem dürfe man nicht auf die leichte Schulter nehmen. „Die energieintensiven Branchen stehen am Anfang nahezu aller industriellen Produktionsprozesse“, erläutert Vassiliadis. „Wenn sie dichtmachen, ist das der erste Schritt zur De­indus­tri­ali­sie­rung Deutschlands.“ Deshalb setzt sich die IGBCE seit Monaten für einen fairen Industriestrompreis ein – zusammen mit den anderen Industriegewerkschaften und großen Teilen der deutschen Industrie.

Bislang habe man bei TRIMET Kurzarbeit für die Beschäftigten vermeiden können, erzählt Thomas Flesch – ebenso wie Personalabbau: „Wir nutzen die Zeit jetzt für Wartungsarbeiten, Umbauten, Weiterbildung und Qualifizierung. Außerdem optimieren wir derzeit all unsere Produktionsprozesse in der Elektrolyse, um klimaneutraler zu werden.“ Dadurch habe man wertvolle Zeit gewonnen im Wettlauf gegen die massiv gestiegenen Strompreise.

„Zwei Drittel unserer Öfen sind abgestellt“: Thomas Flesch.

Eigenes Umspannwerk von TRIMET in Essen: Der Aluminiumhersteller steht allein für ein Prozent des gesamten deutschen Stromverbrauchs.

Massive Gefahr für Arbeitsplätze

Eine ganz ähnliche Strategie fahren sie im Kölner Werk des Chemiekonzerns INEOS. Es seien zuletzt viele Wartungsarbeiten vorgezogen worden, zudem habe man gezielt Stundenkonten abgebaut um Kurzarbeit zu verhindern, berichtet der Betriebsratsvorsitzende Marco Hucklenbroich. 2.500 Beschäftigte arbeiten am größten INEOS-Standort in Deutschland. Sein Stromverbrauch allein ist so hoch wie der der gesamten Stadt Aachen mit ihren 250.000 Einwohner*innen.

Mehr als 50 Produkte aus der Grundstoffchemie entstehen hier, etwa Polyethylen für die Auto- und Spielzeugindustrie, für Ver­packungs­ma­te­ri­al oder Kabelisolierungen, aber auch Rohstoffe für die Kautschukherstellung, für Insulin und Antibiotika, Vorprodukte für Waschmittel, Shampoos oder Pflegeartikel. Viele Industriesegmente wie die Chemie, die Autobranche, die Pharma- oder Bauindustrie sind auf INEOS-Produkte angewiesen – sie stehen ganz am Anfang der Wertschöpfungskette.

„Herstellung, Verarbeitung und Transport von Chemikalien geht nun einmal nicht stromlos“, weiß Hucklenbroich. Zwar betreibt INEOS ein eigenes Kraftwerk, dies reicht aber nicht aus, um den gesamtem Strombedarf zu decken. Also kauft man auch immer noch dazu. Und weil INEOS sich den zusätzlichen Strom tagesaktuell am Spotmarkt holt, schlugen die Preisexplosionen infolge des russischen Angriffs auf die Ukraine bei dem Unternehmen direkt durch. „Lange sind wir damit ganz gut gefahren, aber in der Strompreiskrise hat uns das eingeholt und finanziell sehr herausgefordert. Teilweise sind die Preise um das Fünffache angestiegen“, berichtet der Betriebsratsvorsitzende.

Dazu kommt noch der hohe Gaspreis deswegen war beispielsweise die Anlage zur Ammoniakherstellung am Kölner INEOS-Standort bis vor wenigen Wochen für fast ein Jahr heruntergefahren. Das alles hat Folgen: Aktuell liegt die Auslastung am Standort bei rund 50 Prozent, Ende vergangenen Jahres waren es sogar noch deutlich weniger.

Foto: INEOS

Teilweise sind die Preise um das Fünffache angestiegen.

Marco Hucklenbroich,
Betriebsratsvorsitzender
von INEOS in Köln

„Wir fordern deshalb einen Industriestrompreis nicht nur für uns, sondern auch für unsere Kunden, damit die wieder unsere Grundstoffe kaufen“, erklärt Hucklenbroich. „Ohne wettbewerbsfähigen Industriestrompreis sind Arbeitsplätze in Deutschland und Europa massiv gefährdet, die Grundstoffindustrie droht nach China und in die USA abzuwandern.“ Immerhin sei es trotz der angespannten Lage gelungen, für die eigenen Leute eine gewisse Sicherheit zu schaffen. „Wir konnten eine Standortsicherungsvereinbarung abschließen, die unter anderem betriebsbedingte Kündigungen bis 2028 ausschließt.“

TRIMET konnte bislang Strommengen aus langfristigen Lieferverträgen nutzen. Diese Mengen brauche man nun auf – und hoffe auf einen wettbewerbsfähigen Industriestrompreis, sagt Thomas Flesch. „Der muss zügig kommen, damit die langfristigen Investitionsentscheidungen nun getroffen werden können.“ Denn ohne grünen Strom sei eine klimaneutrale Aluproduktion nicht möglich.

Und nicht nur sie. Nahezu alle energieintensiven Industrien stünden in den nächsten Jahren vor gewaltigen Investitionen, um ihre Produktionsprozesse klimagerecht zu modernisieren, berichtet der IGBCE-Vorsitzende Vassiliadis. „Mit einem wettbewerbsfähigen Industriestrompreis geben wir ihnen die Sicherheit, dass sich der Weg der Transformation lohnt und dass man ihn in Deutschland gehen kann und nicht anderswo. Und wir bauen ihnen eine Brücke, bis Erneuerbare und Netze so weit ausgebaut sind, dass unser Strompreis auch ohne Hilfen international wieder auf Augenhöhe ist.“

„Brückenstrompreis“ von sechs Cent

Tatsächlich hat Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck inzwischen ein Arbeitspapier für einen solchen „Brückenstrompreis“ vorgelegt. Er soll bei sechs Cent pro Kilowattstunde liegen und bis maximal 2030 für energieintensive Branchen gelten, die im internationalen Wettbewerb stehen. Die Unternehmen müssen sich im Gegenzug verpflichten, bis 2045 klimaneutral zu wirtschaften. Zudem müssen sie langfristige Standortgarantien geben und sich tariftreu verhalten Bedingungen, die auch die IGBCE immer gefordert hatte. Der Preis­deckel soll nur für 80 Prozent des Verbrauchs gelten, um das Energiesparen zu fördern. Unternehmen sollen sich die Differenz zum Marktpreis erstatten lassen können. Bis 2030 rechnet Habeck mit Kosten von 25 bis 30 Milliarden Euro, die vom Wirtschaftsstabilisierungsfonds getragen werden sollen.

Für Michael Vassiliadis ist dies „ein klares Signal der Standortstärkung. Einen Exodus der energieintensiven Branchen können wir uns auch für die Transformation nicht leisten.“ Sie stünden am Anfang nahezu aller industriellen Produktionsprozesse. Von einem fairen Strompreis profitiere also mittelbar die komplette industrielle Wertschöpfungskette und damit das gesamte Land.

Das sieht auch Michael Schnabl so. „Richtig gut“ findet der Betriebsratschef des Chemieparkbetreibers InfraServ im bayerischen Gendorf den aktuellen Vorschlag. „Das ist ein Bereich, in dem man wettbewerbsfähig produzieren kann“, erklärt der 58-Jährige. Denn „ohne Industriestrompreis gehen in der Industrie über kurz oder lang die Lichter aus“, ist der InfraServ-Betriebsratschef überzeugt. Deswegen sei es auch notwendig, dass der verlässliche „Brückenstrompreis“ so schnell wie möglich komme – „am besten schon gestern“, sagt Schnabl augenzwinkernd.

Foto: Marcus Prell

Ohne Industriestrompreis gehen in der Industrie über kurz oder lang die Lichter aus.

Michael Schnabl,
Betriebsratsvorsitzender
von InfraServ in Gendorf

Im Chemiepark Gendorf sind mehr als 30 Unternehmen mit rund 4.000 Beschäftigten angesiedelt, InfraServ selbst hat am Standort gut 1.200 Beschäftigte. Rund ein Terawatt Strom benötigt der Chemiepark im Jahr und gehört damit zu den größten Verbrauchern im bayrischen Chemiedreieck. InfraServ als Betreiber stellt für die Betriebe im Chemiepark die komplette Infrastruktur und viele Dienstleistungen zur Verfügung, also unter anderem Werkschutz, Logistik, Technik, IT, Gastronomie, Umweltmanagement, Analytik und natürlich auch die Versorgung mit Dampf und Strom. Produziert werden im Chemiepark unter anderem Tenside für ­Waschmittel.

Investitionen wandern ab

Und der Chemiebetrieb 3M Dyneon stellt hier Fluorkunststoffe her, ein existenzielles und unverzichtbares Vorprodukt etwa für die Auto- und Chipindustrie oder in der Brennstoffzellen- oder Medizintechnik zumindest noch bis 2025. Denn die US-Mutter 3M will den Standort schließen. Das wäre nicht nur für den Chemiepark ein riesiges Problem, weil einer der wichtigsten Kunden abwandert, sondern auch für die Industrie, so Schnabl: „Diese Produktionsmengen können am Weltmarkt nicht einfach ersetzt werden.“

Die massiv gestiegenen Stromkosten, die um ein Vielfaches höher liegen als etwa in den USA oder Asien, hätten zuletzt immer häufiger dafür gesorgt, dass wichtige Investitionsentscheidungen gegen den Standort Deutschland und damit auch gegen den Chemiepark Gendorf – gefallen wären, berichtet der Betriebsratsvorsitzende. Seit Beginn des Ukrainekrieges sei es auch immer wieder in Betrieben phasenweise zu Kurzarbeit gekommen. „Das ist aktuell alles sehr unbeständig hier“, sagt Schnabl. „Deswegen ist es überlebenswichtig, dass der Industriestrompreis kommt.“