Menschen & Gemeinschaft

Reportage

Sichtbare Vielfalt: Im Münchner MSD-Gebäude sind Telefonboxen ebenerdig und daher gut mit Rollstuhl nutzbar. Die „Toilette für alle“ setzt ein kleines Zeichen der Inklusion für behinderte, nonbinäre und transgender Menschen. Monatlich trifft sich das Diversity-Board und bespricht weitere Themen.

Wertschöpfung durch Wertschätzung

Text Vera Schankath – Fotos Anna-Kristina Bauer

Der Pharmakonzern MSD tut einiges für eine maximal diverse Belegschaft, in der alle Menschen sich so zeigen können, wie sie sind. Denn: Vielfalt und Offenheit bedeuten auch unternehmerischen Erfolg.

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Unternehmen ohne Diversity sind bald weg vom Markt!“, sagt Lutz Staacke. Der Social-Media-Manager des Arzneimittelherstellers MSD Sharp & Dohme ist – wie sein Arbeitgeber überzeugt vom Wirtschaftsfaktor Vielfalt. Als die ICBCE auf Instagram ihre Diversity Toolbox vorstellt, kommentiert Staacke daher sofort: „Finde ich richtig gut. Wenn ihr Austausch zu euren Unternehmen haben wollt, die Diversity schon leben, dann meldet euch.“ Das hat die Profil-Redaktion getan und MSD in München besucht.

Diversity (Diversität) bedeutet: Teams und Organisationen sind in sich verschieden zusammengesetzt. So geben Unternehmen aktiv Impulse, um innovativer, effizienter und damit profitabler zu agieren. Eine diverse Arbeitskultur stellt sich Herausforderungen der Zeit, indem sie individuelle Potenziale zum Wohle der Organisation fördert. Dass Diversity signifikant positiv auf den Geschäftserfolg wirkt, belegen Studien. Dennoch geben in einer Umfrage des Weiterbildungsanbieters Haufe noch im Sommer 2023 nur zwei Prozent der 200 befragten Unternehmen an, ein ausgereiftes Diversity-Management zu nutzen. Alle anderen stehen am Beginn dieser Reise.

Diversität in der Wirtschaft

MSD gehört zu denjenigen, die sich bereits erfolgreich auf den Weg gemacht haben. Wie die IGBCE hat der Konzern im Jahre 2017 die Charta der Vielfalt unterzeichnet, eine Initiative für Diversität in der Wirtschaft. Heute sind mehr als 5.000 Organisationen mit mehr als 15 Millionen Beschäftigten angeschlossen. Das Modell baut auf den sieben Kerndimensionen einer Persönlichkeit auf: Alter, Ethnie, Geschlecht, soziale Herkunft, Religion, geistige und körperliche Fähigkeiten sowie sexuelle Orientierung. Diversity-Management, inhaltlich meist bei der Geschäftsführung oder dem Personalwesen angedockt, toleriert nicht nur diese individuellen Verschiedenheiten, sondern hebt sie wertschätzend hervor. Bisher unterrepräsentierte Gruppen werden dabei bewusst in den Blick genommen. Diversity-Managerinnen und -Manager entwickeln Strategien und leiten Maßnahmen ab. Vielfalt verstehen sie als dynamisches Konzept, das existierende Narrative in kleinen Schritten verändert.

Warum Unternehmen von Diversität profitieren

Bei MSD gehört Vielfalt zur tief empfundenen Kultur. Der amerikanische Konzern hat weltweit 70.000 Mitarbeitende, 2.600 von ihnen an neun deutschen Standorten. Global engagieren sich gut 22.000 Kolleginnen und Kollegen in 290 Employee Business Resource Groups, kurz EBRG, für Vielfalt. In Deutschland können Mitarbeitende zehn Prozent ihrer Arbeitszeit dem Thema Diversity widmen. Die Idee der EBRGs kommt aus den USA. Bereits 1970 schlossen sich dort People of Colour zusammen, 1995 folgten Frauen, dann Menschen spanischer und asiatischer Abstammung, um ihren Anliegen eine gemeinsame Stimme zu geben. Alle Mitarbeitenden können eigenständig neue Gruppen bilden und sind dabei nicht auf vordefinierte Merkmale begrenzt.

In Deutschland wirken bei MSD derzeit vier EBRG. Sie setzen die Themen Behinderung, Frauen, LGBTQIA+ sowie Alter auf die Agenda. „Auch unsere Kundinnen und Kunden sind vielfältig. Das wollen wir abbilden“, erklärt Staacke, der im Sommer 2022 die Leitung der deutschen Rainbow Alliance übernommen hat, in der es um sexuelle und geschlechtliche Orientierung geht. Er will „aktiv an einem Umfeld mitwirken, in dem jede Person sein kann, wie sie ist“.

Je offener, desto erfolgreicher

Warum das entscheidend für die Arbeitsleistung ist, kann der 41-Jährige mit persönlichen Erfahrungen und mit Studien belegen. Je ausgeprägter das Diversity-Management, desto freier fühlen sich Beschäftigte. Sie schöpfen ihr Potenzial stärker aus. So belegt eine Untersuchung der Boston Consulting Group: Unternehmen, die Diversität fördern, machen 19 Prozent mehr Umsatz als ihre konservativen Wettbewerber. „Wer sich verstecken muss, arbeitet nicht gut. Denn dann ist ein Teil der Arbeitskraft für das Aufrechterhalten eines Lügenkonstrukts geblockt und fehlt dem Unternehmen“, so Staacke, der selbst offen homosexuell mit seinem langjährigen Partner in der Nähe von München lebt.

Christina Puchstein verantwortet die Vielfalt, Chancengerechtigkeit und Inklusion bei MSD. Sie sagt: „Diversity ist zu komplex, um sie nebenbei zu leisten.“

Egal ob alt, ob jung, ob Mann, ob Frau: Networking im Format „Mystery Coffee“.

Laut einer Studie von McKinsey & Company wissen 38 Prozent der queeren (also zum Beispiel nicht heterosexuellen) Talente, dass ein Coming-out ihr Leben leichter machen würde. Gleichzeitig sehen 22 Prozent darin ein Karriererisiko. Outen sich Mitarbeitende nicht im ersten Jahr im neuen Job, sinkt die Wahrscheinlichkeit eklatant. Staake selbst hat sich spät zu seiner Homosexualität bekannt, denn sein Vater machte homophobe Sprüche. Eines Tages aber rief sein Vater an und sagte: „Tante Ruthchen hat erzählt, dass du einen Freund hast. Warum hast du mir nichts gesagt?“ Dann haben beide gelernt: Damit sich etwas verändert, ist es wichtig, miteinander zu reden. Diese Perspektive hilft auch Unternehmen.

Dreimal im Jahr organisiert Staackes Gruppe den Rainbow Talk für Kolleginnen und Kollegen. Dann sprechen während der Arbeitszeit Gäste zu Themen wie Transmedizin, Asexualität oder Rassismus in der Medizin. Auch kleine Zeichen wie Staackes Smartphonehülle oder Schlüsselband in Regenbogenfarben fördern den Austausch. „Ein neuer Kollege, der sich outen möchte, hat mich daraufhin angesprochen. Und ich hatte ein Gespräch mit einem Kollegen, der sich um seinen homosexuellen Sohn sorgt“, erzählt Staacke. Seine Erfahrung: Schon die Frage „Wie war dein Wochenende?“ kann für ungeoutete Menschen stressig sein. Die Prämisse: Je ehrlicher du sein kannst, desto mehr Platz hast du.

Wie entscheidend mentale Gesundheit für die Produktivität ist, das ist in der Wirtschaftswelt längst angekommen. „Auf eigene Geschichten kommt es an“, ist Nicola Brisley überzeugt. Seit 2022 leitet sie die EBRG für Menschen mit sichtbarer und unsichtbarer Behinderung. Die Britin selbst ist nicht betroffen. Ihre EBRG heißt capABILITY. Ihr Ziel: „Ich habe einen starken Gerechtigkeitssinn und möchte denjenigen meine Stimme geben, die sich nicht trauen, laut zu sein.“

Brisley und ihr Team schaffen einen sicheren Rahmen und merken dennoch, wie schwer es Menschen fällt, sich zu öffnen. Viele fürchten Konsequenzen. Brisley fragte sich: „Was kann ich da beitragen?“, und geht als Vorbild voran. Ihre Mutter verstarb früh an Krebs. Brisley organisierte den ersten Talk zum Thema Trauer und Verlust, sprach über eigene schmerzvolle Erfahrungen. Sie hat gelernt: „Wenn man Menschen offen begegnet, dann öffnen sie sich auch.“ Es folgten Talks zu Autismus und Krebs. Kolleginnen und Kollegen sprachen über ihre Diagnosen und das, was sie sich am Arbeitsplatz wünschen. Später lud Brisley Gäste zum Thema Leichte Sprache ein. Spannend für den Pharmariesen, denn: Um alle Menschen mit Informationen in Beipackzetteln zu erreichen, sollen sie auch in Leichter Sprache vorliegen, gleichzeitig aber regulatorische Vorgaben erfüllen. Auch diese Talks liegen in der Arbeitszeit, meist nachmittags, wenn keine Meetings sind, damit alle teilnehmen können.

Wer sich verstecken muss, arbeitet nicht gut.

Lutz Staacke,
Social-Media-Manager

Die vier Frauen in der EBRG capABILITY sind laut für die Leisen. „Wir erfahren dabei viele Glücksmomente“, erzählt Brisley. Zum jährlichen Tag des Downsyndroms am 21. März zum Beispiel rufen sie auf, unterschiedliche Socken zu tragen, das Symbol für Solidarität mit Menschen mit Downsyndrom. „Wir schaffen Awareness“, so Brisley. Sie weiß, dass Menschen mit Behinderung Teams oft stärken. „Viele zeigen Resilienz und Kampfgeist, haben gelernt, Hindernisse zu überwinden und kreative Lösungen zu finden. Geduld und Problemlösungskompetenz tun allen gut.“ Ein großes Thema für Unternehmen sei es, überhaupt Bewerbungen von Menschen mit Behinderung zu erhalten. MSD postet daher alle Stellenangebote auch auf der inklusiven Jobbörse myAbility.jobs.

Die vier EBRGs in München arbeiten eng zusammen. Einmal im Monat treffen sie sich im DE&I-Board unter Leitung von Christina Puchstein, Verantwortliche für Nachhaltigkeit bei MSD Deutschland. Die studierte Gesundheitswissenschaftlerin verantwortet das gesamte Thema Nachhaltigkeit, wozu auch DE&I gehört. DE&I steht für „diversity, equity, and inclusion“. Zu Deutsch: Vielfalt, Chancengerechtigkeit und Inklusion. Puchstein ist stolz auf die globale DE&I-Strategie ihres Arbeitgebers.

Engagement fördern: Bezahlte Stunden für ein Ehrenamt

Sie hat für MSD absolute Priorität. „Denn“, Puchstein lässt keine Zweifel, „nur Vielfalt und Inklusion können die komplexen Probleme unsere Zeit lösen.“ Dabei sei Chancengerechtigkeit die Brücke. Mit dem DE&I-Board setzt sie globale Vorgaben für das deutsche Unternehmen um, bietet unter anderem Schulungen für Führungskräfte, regelmäßige Workshops, einen jährlichen DE&I-Monat sowie für alle Mitarbeitenden vierzig bezahlte Stunden pro Jahr für soziales Engagement, und das bereits seit 2009.

„Diversity ist zu komplex, um sie nebenbei zu leisten“, weiß Puchstein. „Kolleginnen und Kollegen haben unglaublich gute Ideen. Im Board können wir sie strukturieren, priorisieren und budgetieren.“ MSD schafft damit eine Kultur, die rechtem Populismus trotzt. Puchstein betont mit Blick auf die Europawahl im Juni und der Gefahr für Freiheit und Demokratie durch nationalistische Strömungen: „Es ist unsere unternehmerische Verantwortung, Orte zu schaffen, an denen alle sicher sind. Denn hier kommen viele verschiedenen Menschen zusammen. Wir haben eine ­Vorbildfunktion.“