Menschen & Gemeinschaft

Ein starkes Team

Einsatz im
Blaulichtmilieu

Text Christian Parth – Fotos Marek Kruszewski

Die Werkfeuerwehr im Chemiepark Marl gehört zu den größten ihrer Art in Deutschland. Bei dem schweren Unglück eines Güterzugs mit Gefahrgut in Gifhorn haben die Fachleute aus dem Ruhrgebiet gezeigt, worauf es im Einsatz ankommt: Kompetenz und Teamgeist.

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Dichter Rauch quillt aus einer Werkstatt im Chemiepark Marl, Flammen schlagen bis hoch zur Decke. Drinnen liegt offenbar eine bewusstlose Person. Um 7:31 Uhr geht bei der Werkfeuerwehr ein Notruf ein, die Leitstelle löst einen Alarm der Stufe Feuer 2 aus. Die Feuerwehrleute rutschen die Stange hinunter, die von der ersten Etage der Wache direkt in die Wagenhalle führt. Sie hechten in ihre Anzüge, dann in die Rettungsfahrzeuge. Gut drei Minuten nach dem Notruf trifft der Löschzug am Unglücksort ein.

Der Trupp arbeitet wie eine gut geölte Maschine. Jeder Handgriff sitzt, jedes Teammitglied hat seinen Platz, man vertraut einander. Der Einsatzleiter gibt die Kommandos, seine Leute setzen sie schnell und routiniert um. Überblick verschaffen, Wasserzufuhr sichern, Schläuche ausrollen, Atemschutzmasken überziehen, vorrücken. Die Einsatzkräfte sind voll konzentriert. Wenige Minuten später retten die Feuerwehrleute die verletzte Person, Sanitäter*innen übernehmen die Erstversorgung. Das Feuer wird gelöscht. Nach zehn Minuten ist der Einsatz beendet. Dem Patienten geht es offenbar gut, auch wenn er sich nicht äußern kann. Es ist ein Dummy, 70 Kilogramm schwer. Der Rauch kam aus einer Nebelmaschine, die Flammen wurden mit roten Stoffstreifen und einem Ventilator simuliert.

Im Porträt: Die Werkfeuerwehr Chemiepark Marl

Jede Sekunde zählt

Alarmübungen wie diese gehören zum Tagesgeschäft der Werkfeuerwehr im Chemiepark Marl im Ruhrgebiet. Sie sind wichtig, weil sie schulen, worauf es ankommt, wenn jede Sekunde zählt: als Mannschaft für die unterschiedlichsten Lagen so schnell wie möglich die besten Lösungen zu finden. Jeden Werktag nach dem Schichtwechsel um 6:55 Uhr und der halbstündigen Fahrzeugübergabe startet um 7:30 Uhr die 90-minütige Ausbildungszeit. Mal praktisch, mal theoretisch. Simulierte Brände löschen, Absturzsicherung, eingeklemmte Personen aus einer lebensbedrohlichen Lage befreien, Umgang mit giftigen und mitunter explosiven Chemikalien trainieren, Ortskenntnis und Stoffkunde. „Es ist wichtig, dass wir in Übung bleiben“, sagt Christian Oertel, 41 Jahre alt und Leiter des operativen Brandschutzes. Vor allem eine gute Orientierung sei gefragt. „Wir müssen innerhalb von fünf Minuten an jedem Ort des Chemieparks eintreffen können.“

Die Werkfeuerwehr des Chemieparks Marl gehört zu den größten ihrer Art in Deutschland. Die zwei Wachabteilungen mit jeweils 30 Feuerwehrleuten haben eine Spezialexpertise: den Umgang mit Chemikalien. Er wird während der 18-monatigen Feuerwehr-Grundausbildung und in den Einsätzen selbst erlernt. Hinzu kommen spezielle Lehrgänge für Industriebrandbekämpfung und der sogenannte Flansch-Führerschein, bei dem der Umgang mit speziellen Schlauchsystemen, Verbindungen, Dichtungen und Anschlüssen der chemischen Industrie erlernt wird, die es bei den öffentlichen Feuerwehren nicht gibt.

Teamgeist: Die Werkfeuerwehr im Chemiepark Marl kann Einzelkämpfer nicht gebrauchen.

Christian Oertel,
Leiter Brandschutz

Spezialkenntnisse sind in Marl auch nötig: 20 Unternehmen aus der chemischen Industrie haben sich auf einer Fläche von sechs Quadratkilometern angesiedelt, 10.000 Menschen arbeiten hier in 900 Gebäuden und fünf Kraftwerken. Aus Säuren, Laugen und allen Arten von Kohlenwasserstoffen wird in 100 verschiedenen Anlagen produziert, was jeder Mensch aus dem Alltag kennt: Vorprodukte für Verpackungen, Sportartikel oder auch den Superabsorber von Babywindeln.

Dass trotz der gefährlichen Produktionszutaten im Chemiepark Marl nur selten etwas passiert, sei den strengen Sicherheitsvorschriften zu verdanken, sagt Oertel. Meistens habe man es mit ausgelaufenen Substanzen zu tun, mal ein Verkehrsunfall, Brände gebe es nur ab und an, wenn etwa eine Pumpe zu heiß gelaufen sei. Hochschlagende Flammen auf dem Werksgelände haben die Marler zuletzt 2018 erlebt, als eine Müllsortieranlage in Brand geriet.

Fähigkeiten bundesweit gefragt

Auch wenn nicht so viel passiere wie bei der Berufsfeuerwehr in einer Großstadt wie Berlin, wo Oertel vor seinem Wechsel 2016 nach Marl gearbeitet hat, muss die Werkfeuerwehr immer auch für den Worst Case gewappnet sein. Der kann in einem Chemiepark schnell außergewöhnliche Dimensionen annehmen. Daher ist hier alles etwas größer und leistungsfähiger als bei einer normalen kommunalen Feuerwehr: Die Fahrzeuge fassen mehr Löschschaum, können Wasser weiter schießen, die Pumpen haben mehr Wumms, die Teleskopmastbühne mit Rettungskorb kann bis zu einer Höhe von 42 Metern ausgefahren werden. Hinzu kommen zahlreiche Werkstätten zur Wartung, etwa von Spezialanzügen für Chemieunfälle, Ganzkörperanzüge aus Gummi.

Wuchtiger Helfer: Der Feuerwehrkran unterstützt das Team in luftigen Höhen.

Auch in schwierigen Situationen muss die Werkfeuerwehr einen kühlen Kopf bewahren.

Durchblick behalten: Ist der Rauch zu stark, dann setzt die Feuerwehr spezielles Gerät ein.

Viele kleine Helfer gehören zur Standardausrüstung der Werkfeuerwehr.

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Das Einsatzgebiet der Werkfeuerwehr ist längst nicht auf den Chemiepark beschränkt. Sie unterstützt öffentliche Feuerwehren im Umfeld im Rahmen der überörtlichen Hilfeleistung auf Anforderung. Zum Kern der Tätigkeiten gehört auch der Rettungsdienst: Bei Unfällen, Erkrankungen, aber auch Herzinfarkten und Kreislaufzusammenbrüchen rückt die Werkfeuerwehr aus.

Allein 1.000 solcher Einsätze haben die Feuerwehrleute 2022 gefahren, einen Teil davon auch zur Unterstützung im öffentlichen Raum. Die Expertise der Marler Spezialfeuerwehr ist aber auch bundesweit gefragt. Als Teil des sogenannten TUIS (Transport-Unfall-Informations- und Hilfeleistungssystem) fahren sie innerhalb Deutschlands überall dorthin, wo nach Chemieunfällen öffentliche Feuerwehren nichts ausrichten können. Wie zum Beispiel im November 2022 bei Gifhorn in Niedersachsen. Dort war nach einem Signalfehler ein Güterzug aus 25 Kesselwagen mit jeweils 50 Tonnen Propangas in einen stehenden Zug gerast und entgleist. Mitten im Wald, unwegsames Gelände, keine asphaltierten Zugangsstraßen. Einer der Kesselwagen war leckgeschlagen, Explosionsgefahr. Der Unfall hatte tagelang für Schlagzeilen gesorgt und ein zentrales Teilstück der wichtigsten Bahnverbindung zwischen Ruhrgebiet und Berlin stillgelegt. Über Wochen mussten die Züge weite Umleitungen fahren, Hunderttausende Fahrgäste waren betroffen.

„Uns bot sich ein Bild der Zerstörung“, erinnert sich Oertel. Kurz nach dem Notruf hatte sich ein Team der Werkfeuerwehr Chemiepark Marl auf den Weg gemacht. 326 Kilometer Alarmfahrt mit Blaulicht von Marl nach Gifhorn in zweieinhalb Stunden. Gemeinsam mit anderen großen Werkfeuerwehren wurde das Gas umgepumpt und zum Teil gezielt abgefackelt. Neun Tage waren die Marler vor Ort. „Das sind außergewöhnliche Einsätze, die unseren Beruf so spannend und abwechslungsreich machen“, sagt Oertel. Christin Simons war damals auch dabei. Bei allem Schrecken sei es auch eine schöne Erfahrung gewesen, sagt sie. Bei dem TUIS-Einsatz habe man intensiv erleben können, was eine Feuerwehr im Inneren ausmache: Zusammenhalt und kameradschaftliches Miteinander. „Was uns verbindet, ist die Affinität zum Blaulichtmilieu. Für uns ist die Feuerwehr die zweite Familie“, sagt die 38-Jährige.

Jeder Handgriff muss sitzen: Fünfmal je Woche trainiert die Werkfeuerwehr.

Bild der Zerstörung: Beim Zugunglück in Gifhorn unterstützten die Profis aus Marl.

Großartiger Teamspirit

Die beiden Wachabteilungen arbeiten im Wechsel in 24-Stunden-Schichten. Dazwischen ist ein Tag frei. 67 Stunden pro Woche. Auf die vierte Schicht folgt eine dreitägige Pause. Jede Schicht teilt sich in acht Stunden Arbeit, acht Stunden Bereitschaft und acht Stunden Ruhebereitschaft. Insgesamt dürfen die Feuerwehrleute aber nicht mehr als die Hälfte der 24 Stunden arbeiten. Möglich macht dies eine Ausnahme im Arbeitszeitgesetz, die die Überschreitung der Acht-­Stunden-­Norm nur unter bestimmten Rahmenbedingungen zulässt. Diese sind im Manteltarif der chemischen Industrie detailliert geregelt. Die Schicht- und Arbeitszeitzulagen werden individuell für jeden Werkfeuerwehrstandort vereinbart.

Für uns ist die Feuerwehr die zweite Familie.

Christin Simons,
Feuerwehrfrau

Wer so viel Zeit miteinander verbringt, braucht einen guten Teamspirit. Der Zusammenhalt der Truppe sei großartig, sagt Simons. Während des Dienstes treibe man im Fitnessraum unterm Dach gemeinsam Sport, viermal pro Woche unter Anleitung eines Trainers. Abends werde häufig gekocht, die fünf Hobbyangler und drei Jäger servieren regelmäßig Fisch oder auch mal ein Stück vom Wildschwein. Nachts wird in den spartanisch möblierten Dreibettzimmern geruht oder geplauscht. Im Fernsehraum stehen schwarz gepolsterte Stühle vor einem großen Flachbildschirm. „Es ist wie ein Leben in der Jugendherberge“, sagt Simons. Und eines auf Abruf. Ganz gleich, zu welcher Uhrzeit, Simons und ihre Kollegen müssen im Falle eines Einsatzes innerhalb von 90 Sekunden mit dem Löschzug aus der Wache fahren.

Für Christin Simons hat sich mit dem Job bei der Werkfeuerwehr ein beruflicher Traum erfüllt. Schon in der Schule von der naturwissenschaftlichen Lehre der Stoffe fasziniert, absolvierte sie im Chemiepark Marl eine Ausbildung zur Chemielaborantin, arbeitete nebenbei ehrenamtlich als Rettungsassistentin und machte den Abschluss zur Notfallsanitäterin. Als die Werkfeuerwehr 2018 eine Stelle ausgeschrieben hatte, schlug sie zu. Seit Juli 2021 ist sie nun auch ausgebildete Feuerwehrfrau, eine von dreien im Marler Chemiepark. Das Geschlecht habe im Team nie eine Rolle gespielt, beteuert Simons. „Bei uns kommt es nur darauf an, dass man seinen Job richtig macht und sich gegenseitig hilft. Ganz egal, ob Mann oder Frau.“