Arbeit & Gesellschaft

Kompass

Mit jedem Tag dringender

Text Lars Ruzic – Illustration Eugen Schulz

Die Gasmangellage ist vorerst abgewendet, doch viele weit größere Aufgaben der Energiewende liegen noch vor uns. Wo es jetzt vorangehen muss, diskutieren Michael Vassiliadis und Klaus Müller, Chef der Bundesnetzagentur.

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Es ist noch nicht lange her, da drohte in Deutschland die Gasmangellage. Inzwischen hat sich die Lage offensichtlich entspannt. Wie fällt am Ende dieses Winters Ihre Bilanz aus und wie sind die Perspektiven für den kommenden Winter?

Klaus Müller: Tatsächlich war die Lage gerade im Herbst sehr ernst, das haben alle Beteiligten von der Industrie bis zum Bundeskanzler nicht ohne Grund deutlich gemacht. Das war auch kein rein deutsches Pro­blem. Neben einem warmen Winter haben die deutlichen Einsparungen in der Industrie wie in den privaten Haushalten sowie die massiven Investitionen der Bundesregierung in neue Gasinfrastruktur dafür gesorgt, dass wir keine Mangellage erlebt haben und die Speicher noch ordentlich gefüllt sind. Dafür gilt es, einen großen Dank zu sagen! Allerdings ist nach dem Winter immer vor dem Winter: Wir müssen jetzt wieder die Speicher befüllen – ohne russisches Pipelinegas. Die Vorbereitungen dazu laufen auf Hochtouren. Zum Jahresende dürften wir über sechs Flüssiggasterminals verfügen, und deshalb bin ich verhalten optimistisch für den nächsten Winter, aber wir müssen alle etwas dafür tun. Wir dürfen nie wieder so auf Kante genäht unterwegs sein wie im vergangenen Jahr.

Der Minderverbrauch an Gas liegt zu einem Großteil auch an einer Minderproduktion in den energieintensiven Industrien. Welche Folgen hat das und wie wird sich die Lage ändern, wenn die Produktion wieder anzieht?

Michael Vassiliadis: Zunächst ist es ein gutes Zeichen unserer Kooperationskultur, dass sich alle Beteiligten in dieser Krise auf ein gemeinsames Vorgehen verständigt haben. Das ist ja nicht selbstverständlich – und deshalb dankenswert. Gleichwohl bleibt die Lage herausfordernd. Wir hatten einen Minderverbrauch in der Industrie, der nicht zuletzt auch Minderbeschäftigung bedeutete. Das war jetzt in der Not hilfreich, ist aber kein Zukunftskonzept für den Standort Deutschland. Wenn die gasintensiven Branchen wieder stärker produzieren, kann das wieder einen Effekt haben. Das gilt es jetzt im Blick zu halten.

Foto: Bundesnetzagentur

Klaus Müller trat sein Amt als Präsident der Bundes­netzagentur an, da lag der russische Angriff auf die Ukraine gerade fünf Tage zu­rück. In den folgenden Monaten machte sich der gebürtige Wuppertaler einen Namen als Krisenmanager und Einsparmahner. Der einstige Umweltminister von Schleswig-Holstein und Vor­stand des Verbraucherzentrale Bundesverbands gilt als enger Vertrauter von Wirt­schaftsminister Robert Habeck.

Stichwort Flüssiggasterminals: Wie hat sich die Gasbeschaffung eigentlich verändert? Woher kommt unser Gas? Wie viel davon ist Frackinggas aus den USA? Und wohin entwickeln sich die Preise?

Müller: Norwegen hat ja große Teile der Gaslieferungen übernommen, das kommt auch weiterhin über Pipelines. Aber ja: Nach unseren Beobachtungen kommt aktuell ein sehr großer Anteil aus den USA. Da werden sich demnächst wahrscheinlich noch Kanada und der arabische Raum einreihen. Aber vieles ist unkonventionell gefracktes Gas aus den USA. Die Standards der Förderung haben sich dort deutlich gebessert, aber das bleibt ökologisch eine Hypothek. Die Preise sind bekanntlich deutlich gesunken. Das liegt an unseren vollen Speichern einerseits und einer coronabedingt schwächeren Nachfrage Chinas andererseits. Das kann sich natürlich schon bald wieder ändern. Aber das bleibt ein Blick in die Glaskugel.

Vassiliadis: Klar ist, dass wir das Preisniveau früherer Jahre nicht wieder erreichen werden. Die jetzt in Kraft getretene Gaspreisbremse verhindert, dass neue Ausschläge nach oben Bevölkerung und Wirtschaft überfordern. Das bleibt das wichtigste Signal dieses Instruments. Klar ist auch, dass wir Gas weiterhin in großen Mengen benötigen werden – nicht zuletzt als Übergangstechnologie der Energiewende. Das war immer allen klar: ob Umweltverbände, Politik oder Wirtschaft. Dass wir jetzt gefracktes Gas CO₂-intensiv mit Tankschiffen über den Atlantik schippern müssen, weil wir es im eigenen Land verboten haben, ist ein spezieller Fall von Doppelmoral, den sich dieses Land leistet.

„Spezieller Fall von Doppelmoral“: Michael Vassiliadis, Moderatorin Lea Karrasch und Klaus Müller im „Kompass“-Talk.

Stichwort Energiewende: Die Bundesregierung will den Ausbau der Erneuerbaren stark beschleunigen. Der Bundeskanzler hat in Aussicht gestellt, dass bis 2030 jeden Tag fünf Windkraftanlagen gebaut werden. Wie realistisch ist das?

Müller: Das ist natürlich ein realistisches Ziel, erst recht, weil man es auf die gesamte Republik bezieht. Natürlich ist dafür einiges zu tun, aber die Politik hat in einigen Bereichen die Weichen bereits gestellt. Wir als Bundesnetzagentur können jetzt beispielsweise bei den Ausschreibungen die Vergütungssätze anheben, was den Bau der Anlagen attraktiver macht. Dann arbeiten die Länder und Kommunen mit Hochdruck daran, die Flächen zur Verfügung zu stellen – auch diejenigen, die früher eher zögerlich waren. Und der Bundestag nutzt über die EU-Notfallverordnung europäisches Recht, um die Prioritäten zwischen Ausbau der Erneuerbaren, Natur- und Artenschutz neu zu justieren.

Vassiliadis: Ich teile die Analyse, möchte aber noch etwas hinzufügen. Zum einen müssen wir konstatieren, dass wir seit vielen Jahren beim Ausbau von allem, was Erneuerbare betrifft, weit hinterherhinken. Diverse frühere Regierungen haben ihre Ziele erst immer wieder erhöht – und anschließend schöngeredet. Mit jedem Tag wird das Thema nun dringender. Die Unternehmen in den energieintensiven Branchen der IGBCE haben umgeschaltet und wollen schnellstmöglich auf klimaneutrale Produktion umstellen. Das erhöht den Druck noch weiter. Fünf Windräder pro Tag bis 2030 – das ist eine Menge. Deshalb dürfen wir den Kopf nicht in den Sand stecken, sondern müssen klare Prioritäten setzen. Dann kann man auch die Unternehmen motivieren umzustellen. Nur weil wir uns das ganz dolle wünschen, wird das aber noch nicht klappen. Die USA machen uns das übrigens derzeit mit dem Inflation Reduction Act vor. Volle Pulle in Richtung Zukunft mit allem, was dazugehört: Milliarden an Förderung, schnelle Genehmigungen bis zur Greencard. Das ist eigentlich das, was Europa tun müsste.

Blicken wir auf die aktuelle Versorgungslage in Sachen Strom. Müssen die Kernkraftwerke länger laufen als bis Mitte April? Welche Rolle fällt angesichts des teuren Gases der Kohleverstromung zu?

Vassiliadis: Die Kernkraftwerke über den Winter zur Sicherheit weiterlaufen zu lassen, weil dies auch die alten Brennstäbe hergaben, war eine sehr pragmatische und gute Entscheidung der Bundesregierung. Das noch einmal neue Brennstäbe angeschafft werden, die dann ja nicht nur ein paar Wochen laufen könnten, sehe ich nicht. Im Umkehrschluss heißt das natürlich, dass wir derzeit wieder stärker als in der Vergangenheit auf die Kohle in der Verstromung angewiesen sein werden. Das ergibt sich aus den bereits besprochenen Problemen bei Gas und Erneuerbaren. Welche Folgen das für das Vorziehen eines Kohleausstiegs auf 2030 hat, wird man auf Basis der Realitäten besprechen müssen. Wir sprechen da immer von einem Wenn-dann-Zusammenhang: Wenn ausreichend alternative Stromquellen sicher verfügbar sind, dann können auch die Kohlekraftwerke vom Netz gehen.

Wir pressen alles heraus, was
es an Beschleunigung gibt.

Klaus Müller,
Präsident der Bundesnetzagentur

Entscheidend für die Energiewende ist auch der Ausbau der Stromnetze – etwa um Windstrom vom Norden in den Süden zu bringen. Das ging bislang im Schneckentempo voran, wie soll da Tempo reinkommen?

Müller: Wir sitzen sehr regelmäßig mit dem zuständigen Staatssekretär und den vier Übertragungsnetzbetreibern zusammen, um Verzögerungseffekte systematisch auszuschließen. Wir pressen aus der gemeinsamen Planung alles heraus, was es an Beschleunigung gibt. Aber Details dazu werde ich nicht am offenen Markt verhandeln. In Vergangenheit gab es immer mal wieder Bürgermeister, Landräte, sogar Abgeordnete, die noch mal hier eine Verzögerung oder da eine Umplanung in den Prozess eingebracht haben. Das ist, als wolle man nach dem Hausneubau noch die Architektur des Kellers ändern. Diesen Fehler machen wir jetzt nicht mehr.

Klaus Müller, Michael Vassiliadis: Wir danken für dieses Gespräch.

IGBCE Kompass: Den neuen Polit-Talk mit Michael Vassiliadis und Gast kannst du in voller Länge nicht nur in der digitalen Ausgabe dieses Magazins sehen und hören, sondern auch über die „Meine IGBCE“-App, im Web bei igbce.de sowie auf dem Youtube-Kanal deiner Gewerkschaft und auf allen gängigen Podcast-Plattformen. Dort lässt er sich auch leicht abonnieren.