Arbeit & Gesellschaft

Hintergrundstory

Der neue
Machtfaktor

Text Christian Parth – Fotos Marius Maasewerd

Der Arbeitsmarkt hat sich radikal gewandelt. Immer öfter können sich junge Beschäftigte den Arbeitgeber aussuchen – und nicht umgekehrt. Die neue Generation nutzt ihre Macht, um auf die Einhaltung klassisch gewerkschaftlicher Positionen zu bestehen. Zum Beispiel, dass Arbeit Sinn stiften muss – und dass Feierabend auch wirklich Feierabend bedeutet.

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Zoe Dickhaut wusste früh, was sie beruflich aus ihrem Leben machen will. Mit 13 Jahren absolvierte die Heidelbergerin ein Schülerpraktikum in einem Labor bei BASF in Ludwigshafen. Nach dem Abi begann sie dort ihre Ausbildung zur Chemielaborantin. Inzwischen ist sie beim Konzern fest angestellt, engagiert sich in der Jugend- und Auszubildendenvertretung (JAV) und in der IGBCE, bei den Jusos und der sozialistischen Jugend.

Zoe Dickhaut wünscht sich mehr
Ausgewogenheit in der Arbeitswelt.

Ebenfalls sehr früh wusste Dickhaut aber auch, was sie in ihrem Beruf keinesfalls will: ständig verfügbar sein. Als kurz vor Ausbildungsende unterschiedliche Labore im Unternehmen darum warben, sie zu übernehmen, klingelte eines Abends gegen 20 Uhr ihr Mobiltelefon. Sie war im Feierabend, hat den Anruf daher nicht entgegengenommen. Eine Mitarbeiterin von einem der Labore, die Dickhaut gern beschäftigt hätten, sprach auf die Mailbox. „Für mich war klar, dass ich dort nicht arbeiten will“, sagt die 23-Jährige. „Wer um diese Uhrzeit anruft, macht das vielleicht auch öfter. Das kam für mich nicht infrage.“

So viele offene Stellen wie nie

Ihre Reaktion habe intern für Debatten gesorgt. Sollte eine Auszubildende nicht froh sein, dass sich der Arbeitgeber um sie bemüht? Dickhaut aber geht es um mehr – um das Hinterfragen einer Praxis, die viele Arbeitgeber als selbstverständlich ansehen. „Wir müssen eine klare Linie ziehen und diese auch durchsetzen. So wie früher darf es nicht mehr laufen.

Die Arbeitswelt ändert sich fundamental. Immer öfter sind es die Beschäftigten, die sich den Arbeitgeber aussuchen können – und nicht umgekehrt. Aktuell sind auf dem deutschen Arbeitsmarkt so viele offene Stellen zu vergeben wie noch nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik. Zuletzt habe es fast zwei Millionen nicht besetzte Arbeitsplätze gegeben, berichtete unlängst das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung.

Die neue Generation ist in einer komfortableren Situation als ihre Mütter und Väter – und hat andere Vorstellungen von Beruf, Freizeit und Familie. Viele haben als Kinder bei den Eltern beobachtet, dass Arbeit das Leben dominiert. Starke Bindung an ein Unternehmen, Überstunden, Sonderschichten: Dieses Lebensmodell früherer Generationen kritisieren wollen sie nicht, betonen junge Leute, denn es komme nun mal aus einer anderen Zeit. Aber man solle eben auch Verständnis dafür aufbringen, dass sie es nun anders machen wollen und auch können.

Die neuen Arbeitskräfte verlangen mehr Mitsprache und Flexibilität bei den Arbeitszeiten, größere Spielräume bei der Ausgestaltung der Work-Life-Balance und bessere Weiterbildungsmöglichkeiten. Das Streben nach Geld und Karriere steht nicht im Vordergrund, sondern das Bedürfnis, Sinnstiftendes zu tun. Auch eine bedingungslose Loyalität zu einem Arbeitgeber gibt es nicht mehr, stattdessen den Trend, beim sogenannten Jobhopping immer wieder neue Herausforderungen zu suchen.

Sinnbildlich dafür sind Begriffe wie New Work oder Quiet Quitting. Letzteres schwappte aus den USA nach Europa, verbreitete sich in sozialen Netzwerken. Es meint das geräuschlose und pünktliche Verlassen des Arbeitsplatzes nach der vertraglichen Arbeitszeit. Kein Entgegennehmen von beruflichen Anrufen mehr. Keine Reaktion auf Nachrichten in den Job-Whatsapp-Gruppen. Das Zukunftsinstitut in Frankfurt am Main, das Veränderungen der Arbeitswelt aufspürt, schreibt von einer Zeit des Übergangs. Die kapitalistisch geprägten Vorstellungen von Karriere und Erfolg treten demnach in den Hintergrund. Stattdessen geht es um Sinnhaftigkeit, Gestaltungsmöglichkeiten und Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben. „Die rationale Leistungsgesellschaft mit Überstunden, Konkurrenzkampf und Präsenzzeiten hat sich als nicht zukunftsfähig erwiesen“, so die Forschenden.

Die neue Generation von Beschäftigten hat sehr wohl Bock auf Arbeit, sie hat nur keinen Bock auf (Selbst-)Ausbeutung.

Philipp Hering,
Leiter der Abteilung Junge Generation/Ausbildung
bei der IGBCE

Keinen Bock auf Selbstausbeutung

Diese Erkenntnis hat offensichtlich noch nicht jede*n ereilt. Den Arbeitgebern fällt als Mittel gegen den Fachkräftemangel anscheinend nur längeres Arbeiten ein – sowohl mit Blick auf die Wochenarbeitszeit als auch mit Blick auf die Lebensarbeitszeit. „Wir brauchen mehr Bock auf Arbeit“, fordert der Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), Steffen Kampeter. „Dabei hat er offenbar etwas missverstanden: Die neue Generation von Beschäftigten hat sehr wohl Bock auf Arbeit, sie hat nur keinen Bock auf (Selbst-)Ausbeutung“, sagt Philipp Hering, Leiter der Abteilung Junge Generation/Ausbildung bei der IGBCE.

Zoe Dickhaut berichtet von einer Podiumsdiskussion, bei der eine Personalchefin erzählte, wie sie sich als Sekretärin in die Geschäftsleitung hocharbeitete: mit Disziplin und Überstunden. Genau das wollten die Jüngeren nicht mehr: „Beschäftigte sollten nicht mehr befördert werden, nur weil sie eine größere Bereitschaft als andere haben, sich selbst auszubeuten. Sondern allein auf Grundlage ihrer Qualifikation. Nur so schaffen wir beim Auswahlprozess Gerechtigkeit.“

Die Zeiten für einen tiefgreifenden Wandel sind günstig. Der Fachkräftemangel zwingt Arbeitgeber, sich für die viel zu wenigen Bewerber*innen so hübsch wie möglich zu machen. Selbst Schwergewichte wie Bayer und BASF haben Probleme, Ausbildungsstellen zu besetzen. In den Personalabteilungen tobt der „War for Talents“. Führungskräfte sind immer schwieriger zu finden, weil mehr Stress dem Ziel nach Lebenszufriedenheit entgegensteht.

Die Sicherheit unter dem Tarifschirm, klar geregelte Arbeitszeiten sind vielen mehr wert als ein höherer Lohn.

Eveline Wengler,
einst Betriebsrätin bei der Bayer AG
und Expertin für den AT-Bereich

Selbst die Aussicht auf bessere Bezahlung außerhalb des Tarifs sei für viele kein Anreiz mehr, sagt Eveline Wengler, einst Betriebsrätin bei der Bayer AG und Expertin für den AT-Bereich. „Die Sicherheit unter dem Tarifschirm, klar geregelte Arbeitszeiten sind vielen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern mehr wert als ein höherer Lohn.“ Wer außertariflich beschäftigt wird, genieße zwar Vertrauensarbeitszeit, aber die sei das Einfallstor zur Selbstausbeutung, da viele Arbeitgeber als Gegenleistung erwarteten, dass im Stillen Überstunden geleistet würden. „Die meisten AT-Beschäftigten trauen sich nicht, das zu kommunizieren, aus Angst vor Konsequenzen. Deshalb entscheiden sich Beschäftige öfter, trotz finanziell verlockender Angebote im Tarif zu bleiben.“ So avanciert der Tarifvertrag zu einem wichtigen Instrument, um Akademiker*innen ans Unternehmen zu binden.

Arbeitgeber müssen also etwas bieten, um Beschäftigte von sich zu überzeugen. „Homeoffice und flexible Arbeitszeiten sind wichtig, sonst ist man als Arbeitgeber raus“, sagt Luca Schneider. Der 24-jährige Chemielaborant bei der Bayer AG in Leverkusen hat als JAV beobachtet, was seine jungen Kolleg*innen erwarten. Manchen sei die Vereinbarkeit von Beruf und Freizeit sehr wichtig. Für sie gebe es im Job nicht nur ein Bergauf, sondern auch die Entwicklung zur Seite. Andere hätten einen Hang zum Workaholic, sie wollen sich schnell weiterbilden, rasch aufsteigen, viel Geld verdienen. Allerdings wie Luca Schneider mit dem Ziel, vorzeitig in den Ruhestand gehen zu können. „Unsere Generation will nicht bis 70 arbeiten, wie sich der Staat das vielleicht wünscht“, sagt er.

Ohne Ausbildung keine Zukunft

Fachkräfte fallen nicht vom Himmel – die IGBCE-Jugend macht sich deswegen stark für mehr Ausbildungsplätze. „Der Fachkräftemangel bleibt neben Energie- und Klimakrise die größte Herausforderung für die deutsche Wirtschaft“, sagt IGBCE-Bundesjugendsekretär Philipp Hering. Um das Ausbildungsengagement in den IGBCE-Branchen zu steigern, starte nun die Kampagne „Ohne Ausbildung keine Zukunft“. „Es müssen mindestens so viele Ausbildungsplätze angeboten werden, dass der Fachkräftebedarf des Unternehmens gedeckt wird“, so Hering, „Überbedarfsausbildung bleibt das politische Ziel.“ Dazu werden bis 2025 verbindliche, betriebliche Lösungen vereinbart. Mehr Informationen unter: ohne-ausbildung-keine-zukunft.de

Sparen fürs Sabbatical

Auch deshalb hat Schneider bei Bayer ein Langzeitkonto, in das er und der Arbeitgeber einen Teil des Gehalts einzahlen. Das Ersparte kann sich Schneider zur Rente auszahlen lassen – oder um irgendwann auf eine Viertagewoche zu reduzieren oder ein Sabbatical zu finanzieren.

Ganz freiwillig ist das Entgegenkommen nicht. Sowohl der Demografiefonds, der Langzeitkonten möglich macht, als auch das Zukunftskonto, auf dem etwa für Sabbaticals „gespart“ werden kann, hat die IGBCE in Tarifverhandlungen für die chemische Industrie erstritten. „Letztlich war es unsere Idee, die wir in Verhandlungen durchsetzen konnten“, betont Hering. „Gute Arbeitsplätze werden nicht von den Unternehmen geschaffen, sondern weil die Gewerkschaften sie dazu bringen.“ Hering erinnert sich an eine Debatte bei der Bundesjugendkonferenz der IGBCE im Mai 2021. Dort habe sich gezeigt, worum es im Grundsatz gehe: um eine neue Definition des Arbeitsbegriffs. Früher diente allein die Lohnarbeit dem Zweck der Selbstdefinition. Die Pflege etwa der kranken Mutter hatte aus Sicht der Arbeitgeber möglichst geräuschlos nebenbei zu erfolgen. Heute sei der Druck auf die Unternehmen gestiegen, Lösungen anzubieten. „Carearbeit und Ehrenamt müssen als gesellschaftliche Leistung anerkannt werden.“

Kritisch sieht Hering die Tendenz von Arbeitgebern hin zu einer Glorifizierung der mobilen Arbeit, um die Kosten für Büros zu senken. Die Pandemie habe gezeigt, dass der Plausch auf dem Flur durch Videokonferenzen nicht ersetzt werden könne. „Homeoffice darf keine Verpflichtung sein, sondern Angebot.“

In der Produktion ist es ohnehin nicht möglich. Und die Bereitschaft, im Schichtdienst zu arbeiten, ist bei Jüngeren gesunken. Zu gering ist der Spielraum, sich die Arbeitszeit selbst einzuteilen. Frank Gottselig, Konzernbetriebsratsvorsitzender beim Hygienepapierhersteller Essity, sagt, früher habe es eine klare Lebensplanung gegeben: Geld verdienen, Baum pflanzen, Haus bauen. Wochenendschichten seien wegen der Zuschläge und der Steuerfreibeträge begehrt gewesen. Heute sei das zusätzliche Geld für viele Jüngere kein Lockmittel mehr, da sie am Wochenende lieber mit Freund*innen unterwegs sein wollten. „Die Arbeit dient dazu, um die Freizeit und das Leben zu finanzieren“, sagt Gottselig.

Das Essity-Werk in Neuss hat deshalb in einem Teilbereich von einem Vierschichtsystem auf fünf Schichten umgestellt. Nun arbeiten die Mitarbeitenden zweimal früh, zweimal spät und zweimal nachts und haben dann zweimal vier und einmal fünf Tage frei. Ein Vorteil sei, dass statt, wie im Tarifvertrag vorgesehen, 38 Stunden nur 33,6 Stunden gearbeitet wird, sagt Gottselig. Die Differenz wird meist für Schulungen, Training und Teamsitzungen verwendet.

Generation Feierabend? Auf ein Wort … mit Philipp Hering, IGBCE-Abteilungsleiter Junge Generation/Ausbildung

Spring an die richtige Stelle

Hebel für Beschäftigte

Die neue Lebensphilosophie der Jungen kommt bei den Älteren nicht immer gut an. Der 24-jährige Inanc Kabadayi, Chemikant bei Covestro in Leverkusen und im örtlichen IGBCE-Jugendausschuss, sagt, ältere Kollegen würden sich schon mal beklagen, dass sich die Jungen zu schnell krankmeldeten. „Sie werfen uns vor, Weicheier zu sein, weil sie sogar mit einem verletzten Bein kommen. Das ärgert uns schon“, sagt Kabadayi. „Wenn ich aber krank zur Arbeit komme, bringt das nichts. Es steigt nur das Risiko, Fehler zu machen. Und danken würde mir auch niemand.“

Der Prozess der Umwälzungen steht noch am Anfang, glaubt Zoe Dickhaut. Der Mangel an Fachkräften gebe den jungen Arbeitnehmenden einen Hebel in die Hand. „Das ist ein Druckmittel. Unternehmen sind nicht mehr in der Position, sich unter 100 Leuten die besten auszusuchen.“ Die Gelegenheit, Ansprüche durchzusetzen, sei laut Dickhaut günstig: „Vielen Bewerber*innen aus der Schule ist gar nicht bewusst, welche Macht sie haben.“