Menschen & Gemeinschaft

Einer von uns

Solidarität ist nicht nur ein Wort

Text Sascha Lübbe – Fotos Moritz Küstner

Pavlo Prudnikov, stellvertretender Vorsitzender der ukrainischen Atomgewerkschaft, wurde im Ukraine-Krieg schwer verletzt. Der IGBCE gelang es, ihn für Rehamaßnahmen nach Deutschland zu holen. Eine Geschichte von internationalem Zusammenhalt in Zeiten des Krieges.

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Pavlo Prudnikov erinnert sich gut an den 24. Februar 2022, den Tag, an dem Putins Armee in der Ukraine einfällt. Es ist ein Donnerstag, er macht sich fertig für die Arbeit, dreht um halb fünf noch eine Morgenrunde mit dem Hund. Dabei fällt ihm auf, wie hektisch es auf den Straßen in seinem Wohnort, einem Vorort von Kiew, zugeht. Es sind mehr Autos unterwegs als sonst, sie fahren schneller als gewöhnlich. Zurück in der Wohnung schaltet er den Fernseher ein, versteht warum: Der Krieg hat begonnen. Er wird nicht nur sein Land, sondern auch ihn ganz persönlich hart treffen.

Pavlo Prudnikov sitzt in seiner Übergangswohnung im IGBCE-­Bildungs­zentrum Haltern am See, Nordrhein-Westfalen. Ernst und entschlossen wirkt er. Die vergangenen anderthalb Jahre haben tiefe Spuren im Leben des Mannes hinterlassen, der eigentlich Vizevorsitzender der ukrainischen Atomgewerkschaft Atomprofspilka ist. Und kein Soldat. Aber der Reihe nach.

Pavlos Geschichte im Video

Die Biografie von Pavlo ­Prudnikov ist bewegt. 1970 in Russland geboren, siedelte die Familie in die Ukraine über, als er 14 Jahre alt war. Als junger Mann arbeitete er als Schauspieler und Journalist in Russland, kehrte später in die Ukraine zurück, trat in die Gewerkschaft ein. Dort stieg er zum Vizevorsitzenden auf. An jenem 24. Februar fährt Prudnikov zunächst ins Gewerkschaftsbüro, sucht Laptops und wichtige Dokumente zusammen. Dann fährt er weiter zur Tankstelle, tankt voll. „Das haben wir bei der Annexion der Krim gelernt“, sagt er. „Seitdem wissen wir, wie schnell wichtige Dinge vergriffen sind, sobald der Krieg ausbricht.“

Zwei Wochen harren er, seine Frau und die zwei Töchter in ihrem Wohnort aus. Als die russischen Truppen bedrohlich nahe kommen, bringt Prudnikov seine Familie im Westen des Landes in Sicherheit. Er selbst meldet sich als Fahrer, bringt Kleidung, Drohnen, Walkie-Talkies an die Front. Im Mai wird er zur Armee eingezogen.

Pavlo Prudnikov und sein Vertrauter, Detlef Lüke, auf dem Campus in Haltern am See. Lüke hat die Familie eng begleitet.

Die Wappen erinnern Pavlo an seine Kameraden. Zugleich sind sie Zeugnis des andauernden Krieges.

Der Wendepunkt

Es ist der 31. August. Der Tag, der sein Leben für immer verändern wird. Spricht man ihn heute darauf an, muss er sich erst einmal sammeln. „Ich erinnere mich nicht an viel“, sagt er. Prudnikov ist als Fahrer an der Front bei Bachmut unterwegs. Es ist dunkel, die Straßen sind schwer beschädigt. Um vom Feind nicht gesehen zu werden, darf er kein Licht anmachen. „Ich muss auf irgendetwas aufgefahren sein“, sagt er heute.

Seine nächsten Erinnerungen: ein Mann, der ihn aus dem Wagen hievt. Ein Krankenhaus. „Ich nehme an, ein Teil meiner Ladung ist beim Aufprall von hinten nach vorn geflogen“, sagt Prudnikov, „und hat mir das Rückenmark durchtrennt.“ Seitdem ist er querschnittsgelähmt. Die Aussichten auf eine ordentliche Behandlung in den Kriegswirren sind denkbar schlecht. An dieser Stelle kommt die Schwestergewerkschaft IGBCE ins Spiel. Man kennt sich seit Jahren, beide Gewerkschaften sind Mitglied im Gewerkschaftsverband ­IndustriALL. Es gibt Gespräche, wie man Prudnikov helfen kann. Auch der Vorsitzende der IGBCE, Michael Vassiliadis, ist involviert.

Verschiedene IGBCE-Kolleginnen und -Kollegen bemühen Verbindungen, unter anderem zum DGB, zur Knappschaft, zum Arbeiter-­Samariter-­Bund, um Prudnikov nach Deutschland zu holen. „Wir haben das alles innerhalb von drei Wochen umgesetzt“, sagt Hannes-­Hauke Kühn, Internationaler Sekretär der IGBCE, der eng in die Organisation eingebunden ist.

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Ankommen in Deutschland

Im Februar dieses Jahres wird Prudnikov an die polnisch-deutsche Grenze gefahren. In Frankfurt (Oder) übernimmt ein Wagen des Arbeiter-Samariter-Bundes, bringt ihn in ein Krankenhaus nach Recklinghausen. Dort trifft Prudnikov erstmals den Mann, der sein wichtigster Vertrauter in Deutschland wird: Detlef Lüke.

Lüke leitet das Adolf-­Schmidt-­Bildungs­zentrum in Haltern am See. Als er von Prudnikov erfährt, will er sofort helfen. Er richtet eine Wohnung auf dem Campus ein, kümmert sich um die Formalien, und das auf unkonventionellem Weg. Um schnell die Aufenthaltserlaubnis für die Familie zu bekommen, wendet er sich direkt an das Bürgermeisterbüro. Mit Erfolg: Als die Familie eintrifft, sind die Dokumente bereits fertig. Sie müssen nur noch unterschreiben.

Kritischer sieht Prudnikovs medizinische Situation aus. Die Ärztinnen und Ärzte in Recklinghausen gehen davon aus, dass seine Querschnittslähmung irreversibel ist. Er wird in ein Rehaklinikum in Bottrop verlegt. Ziel ist jetzt, einen Umgang mit der Lähmung zu finden. Doch die Möglichkeiten sind begrenzt. Grund ist ein multiresistenter Keim, Prudnikov hat sich in der Ukraine infiziert. Die medizinischen Vorschriften schränken mögliche Rehamaßnahmen deutlich ein. Er wird aus der Reha entlassen, bezieht die Wohnung in Haltern am See. Gemeinsam mit ­Detlef Lüke versucht er, einen weiteren Rehaplatz zu finden, scheitert aber aufgrund des Keims. Zu organisieren gibt es dennoch viel: Arzttermine, Medikamente, ein neuer Rollstuhl regelmäßig kommt Lüke mit der Familie zusammen, um zu helfen. Prudnikov sagt: „Detlef hat mir den Rücken frei gehalten. Dadurch war meine Seele frei.“

Im Kreis der Familie: Pavlo Prudnikov mit seiner Frau und den beiden Töchtern.

Neue Aufgaben

Er selbst arbeitet weiter für die Gewerkschaft, organisiert Sitzungen, leitet Seminare; ein bisschen wie früher, nur digital. Es ist die Situation der Gewerkschaft, die sich radikal verändert hat.

60.000 Mitglieder hatte Atomprofspilka vor Beginn des Krieges. Wie viele es jetzt sind, lässt sich nicht beziffern. In der ersten Phase des Krieges, sagt Prudnikov, bestand ihre Hauptaufgabe darin, die Arbeiterinnen und Arbeiter in den abgeschnittenen Gebieten mit Lebensmitteln zu versorgen; sicherzustellen, dass sie ihre Gehälter kriegen.

Jetzt, in der zweiten Phase, sei die Arbeitssituation aller ukrainischen Kolleginnen und Kollegen in den Fokus gerückt. Ihre Rechte wurden beschnitten (siehe Infokasten). Für Gewerkschafter wie ihn ein Dilemma: Einerseits gilt es, für die Rechte der Beschäftigten einzustehen. Andererseits ist der Krieg nicht die richtige Zeit, Streiks sind verboten. „Wir versuchen daher, verbal zu überzeugen“, sagt Prudnikov. „Indem wir Briefe schreiben, Social-Media-Kampagnen durchführen.“ Er ist aber auch anderweitig aktiv. Mit seiner älteren Tochter, Beraterin bei der ukrainischen Elektrizitätsgewerkschaft, organisiert er einen IGBCE-Onlineworkshop. Am diesjährigen 1. Mai spricht er ein Grußwort beim DGB.

Eines ist ihm von Anbeginn klar: Er und seine Familie werden heimkehren. Er verfolgt die Geschehnisse in der Heimat täglich, steht in regelmäßigem Austausch mit den Armeekameraden. Am 10. September ist es so weit: Die Familie fährt zurück in die Ukraine. Wie Prudnikov seine Zeit in Deutschland sieht? „Sie hat mich gelehrt, dass Solidarität nicht nur ein Wort ist“, sagt er. Es bedeute, jemanden zu unterstützen, ohne an den eigenen Vorteil zu denken. „Das habe ich bei der IGBCE gelernt.“

Gewerkschaften in der Ukraine

Die Lage der ukrainischen Gewerkschaften ist seit Jahren kritisch. Der Krieg hat die Situation verschärft. So schließt ein neues Gesetz Beschäftigte kleiner und mittlerer Unternehmen vom Rechtsschutz aus. Hannes-Hauke Kühn, internationaler Sekretär der IGBCE, sagt: „Natürlich unterstützen die ukrainischen Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter den Kampf gegen die russischen Invasoren. Die Rechte der Arbeiterinnen und Arbeiter stehen dennoch nicht zur Disposition.“ Die Ukraine hat ein Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union geschlossen. Einige der neu verabschiedeten Gesetze würden gegen EU-Richtlinien verstoßen, sagt Kühn. „Daran muss man die ukrainischen Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger immer wieder erinnern.“