Arbeit & Gesellschaft

Hintergrundstory

Gefangen in der Kostenfalle

Text Lars Ruzic – Illustration Eugen Schulz

Die Energiepreiskrise hat unsere Branchen hart getroffen. Die Lage ist mies: überall Sparpläne, Verlagerungsgefahr, Investitionszurückhaltung. Warum es jetzt einen Befreiungsschlag braucht – und wie der aussehen kann.

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Dass ein Konzernchef und eine Konzernbetriebsratsvorsitzende einer Meinung sind, ist bekanntlich nicht die Regel. Doch wenn die Frage auf die aktuelle Lage in der chemischen Industrie kommt, dann herrscht bei Matthias Zachert und Manuela Strauch Einigkeit. Der Lanxess-Chef hatte unlängst Schließungs- und Verkaufspläne für zwei energieintensive Produktionsanlagen am Standort Uerdingen verkündet und mit markigen Worten kommentiert: „Die Deindustrialisierung beginnt.“

Darauf angesprochen, muss Manuela Strauch nicht lange überlegen: „Das sehe ich auch so.“ In den großen Chemieparks gebe es eine enge Verknüpfung der Produktions- und Warenströme, alles hänge mit allem zusammen. „Wenn wir etwas schließen, trifft das automatisch auch andere am Standort.“ Beispiel: Lanxess will bis Anfang 2026 die Hexanoxidation in Uerdingen beenden. Betroffen sind 61 Beschäftigte, eine Gesamtbetriebsvereinbarung sichert ihnen andere Jobs im Unternehmen zu, niemandem muss betriebsbedingt gekündigt werden.

Das eigentliche Problem ist ein anderes. Der Grundstoff wird von einem Nachbarbetrieb weiterverarbeitet. Der muss das Vorprodukt nun zukaufen. „Wir machen uns abhängig vom Markt und seinen Kapriolen“, warnt die Konzernbetriebsratsvorsitzende. Folgen drohen auch dem Chemiepark insgesamt: Ein großer Abnehmer für Energie und Dampf entfällt, die Gemeinkosten bleiben jedoch und werden nun auf weniger Gewerke umgelegt. „So wird es im Ergebnis für uns alle teurer“, sagt Strauch.

Es ist wie beim Bild mit den Dominosteinen. Fällt der erste, fallen auch schnell die nächsten in der Reihe. Das ist der Grund, weshalb derzeit Unternehmen, Gewerkschaften und Verbände so eindringlich davor warnen, die energieintensive Industrie mit ihren Problemen alleinzulassen. „Die Strompreise müssen endlich runter“, so Strauch. „Und der Behördenwahnsinn muss ein Ende haben. Beides sind K.-o.-Kriterien für den Industriestandort Deutschland.“

Foto: Peter Obenaus

Wenn wir etwas schließen, trifft das auch andere.

Manuela Strauch,
Konzernbetriebsratsvorsitzende
Lanxess

Die Lage ist mies. Als einzige der großen Wirtschaftsnationen wird Deutschland in diesem Jahr schrumpfen, sagt die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) voraus. Selbst für das kommende Jahr wird lediglich mit einem Plus von 0,9 Prozent gerechnet. Größtes Sorgenkind: die energieintensiven Industrien, sei es Chemie, Metall, Papier, Glas oder Kautschuk. Sie haben in der Energiekrise ihren Verbrauch und damit ihre Produktion und den Absatz massiv zurückgefahren. Und bislang fehlen die Anreize, wieder hochzufahren. Beispiel: In der chemischen Industrie sind die Anlagen derzeit nur zu 77 Prozent ausgelastet, ordentlich wirtschaften lässt sich ab etwa 85 Prozent.

Nachhaltiger Schaden droht

So bestimmen derzeit Sparprogramme, Einstellungsstopps, sogar Anlagenschließungen und Personalabbau das Bild. Von Investitionen in die klimagerechte Modernisierung der Standorte ist wenig zu sehen. Die energieintensiven Industrien drohen anders als etwa in der Folge der globalen Finanzkrise vor 15 Jahren diesmal nachhaltig Schaden zu nehmen. Die Wirtschaftswissenschaft spricht von einem Hysterese-Effekt. Heißt: Die Folgen der Krise sind weitaus länger zu spüren als, die Ursache anhält. Mit Blick auf das Thema Gas ist das offensichtlich: Der Preis für den Rohstoff, der uns 2022 noch auszugehen drohte, ist heute wieder auf einem normalen Niveau, die Produktion jedoch nicht. Eine Studie des Mannheimer Volkswirtschaftsprofessors Tom Krebs für die Hans-Böckler-Stiftung rechnet vor, dass sich die Gesamtkosten der Energiekrise durch diesen Effekt auf zehn Prozent der deutschen Wirtschaftsleistung oder 390 Milliarden Euro allein bis Ende 2024 belaufen dürften. Das könne fatale Folgen für den Wohlstand in Deutschland haben.

Die Krux dabei: Das ist nicht das einzige Problem. Die Rezession trifft auf zentrale Industriezweige, die hierzulande seit Jahren mit schwierigen Standortbedingungen zu kämpfen haben: verzögerte Energiewende, überhöhte Energiepreise, überbordende Regulierung, marode Infrastruktur, fehlende Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung.

Expansion findet anderswo statt – in den USA, in China. Ausgerechnet diese Länder locken deutsche Investoren nicht nur mit staatlichen Fördergeldern und geringen Energiepreisen, sondern auch mit Rundum-sorglos-Paketen für Industrieansiedlungen. Die einen haben aus den Folgen der eigenen Deindustrialisierung gelernt und nutzen nun die Transformation, um zurück in die Zukunft zu kommen. Die anderen haben aktuell lange ungekannte Probleme wie Deflation und hohe Jugendarbeitslosigkeit werden also alles tun, um ihre eigene Krise ­abzuwenden.

Gleichzeitig stehen die energie­intensiven Branchen vor der Megaherausforderung, ihre Produktion zu transformieren in Richtung Klimaneutralität, massive ­Investitionen inklusive. In immer mehr Managementetagen stellt sich deshalb gerade die Sinnfrage: Wie sollen Anlagen in nicht gerade industriefreundlicher Umgebung und bei schlechter Versorgungslage mit viel Geld erneuert werden, wenn die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen dafür hierzulande nicht geschaffen werden und man anderswo neue Werke auf die grüne Wiese stellen kann und den Windpark gleich dazubekommt? Gerade bei international aufgestellten Konzernen – egal, ob mit Sitz in Deutschland oder anderswo macht sich deshalb ein gefährlicher Trend breit: Wenn Kosten eingespart und Kapazitäten abgebaut werden müssen, gilt immer häufiger ­„Germany first“.

Ohne Energieintensive steht der Kaiser schnell ohne Kleider da.

Michael Vassiliadis,
IGBCE-Vorsitzender

Foto: Stefan Koch

Verlagerung findet bereits statt vor allem in Chemie-, Papier-, ­Kautschuk-, Keramik- und Glasindustrie. Das gilt nicht nur für bekannte Namen wie BASF, Lanxess, Goodyear oder Villeroy & Boch. Die IGBCE und ihre Betriebsräte verhandeln derzeit in zig Betrieben darüber, die Einschnitte sozialverträglich zu gestalten. Vor allem nährt das eine Sorge: Dass das nur der Anfang ist und die energieintensiven Industrien nach und nach dem Standort Deutschland den Rücken kehren. „Die Gefahr war noch nie so groß wie heute“, sagt der Vorsitzende der IGBCE, Michael Vassiliadis. „Zu toxisch ist der Cocktail unguter Zutaten, die sich da vermengt haben.“

Vassiliadis warnt davor, diese Entwicklung auf die leichte Schulter zu nehmen. „Wir reden hier über Industrien, die der Schlüssel zum deutschen Erfolgsmodell sind. Sie stehen am Anfang aller Wertschöpfungsketten.“ Allein die chemische Industrie liefert Ausgangsstoffe für 95 Prozent aller Industrieprodukte. Keine Auto- oder Maschinenbaubranche ohne die Energieintensiven, keine Wind- oder Solaranlagen. „Wenn uns die Energieintensiven abhandenkommen“, umschreibt es der IGBCE-Vorsitzende, „steht der Kaiser ganz schnell ohne Kleider da.“

IGBCE schmiedet Allianzen

Die IGBCE schmiedet deshalb allenthalben Allianzen, um die Rahmenbedingungen für die energieintensive Industrie zu verbessern. Gemeinsam mit DGB, IG Metall und diversen Branchenverbänden setzt sie sich in der „Allianz pro Brückenstrompreis“ dafür ein, dass die Bundesregierung für international vergleichbare Wettbewerbsbedingungen beim für viele Unternehmen der Branche wichtigsten Kostenfaktor sorgt. Mit den Regierungschefinnen und -chefs der Länder hat sie eine Allianz zur Verbesserung der Rahmenbedingungen für die chemische Industrie geschlossen. Auch das Bundeskanzleramt hat das Thema auf der Agenda (siehe Kasten).

Die IGBCE dringt auf ein standortpolitisches Anreizpaket, das auch international mithalten kann. Das beginnt bei Strompreisen, die sich auf Augenhöhe mit denen anderer Industrienationen bewegen. Gleichzeitig bedarf es eines industriepolitischen Befreiungsschlags, um Produktion und Standorte klimagerecht zu modernisieren und so nachhaltig abzusichern. „Die Transformation ist eine echte Chance für unseren In­dus­trie­stand­ort“, sagt ­Vassiliadis. „Wir müssen deshalb regulatorisch alles tun, um diejenigen zu unterstützen, die den Umbau vorantreiben sollen und wollen.“

Dazu gehört die mutige Förderung von Investitionen und notfalls ihre Absicherung über Bürgschaften, die Erleichterung von Abschreibungsbedigungen. Dazu gehört aber auch, der Modernisierung und dem Ausbau von Standorten, Anlagen, Pipelines, Netzen oder Kreislaufwirtschaftssystemen keine Steine in den Weg zu legen. Mit dem Wachstumschancengesetz habe die Bundesregierung zwar erste Schritte zur Verbesserung der Standortbedingungen gemacht. „Aber das letzte Wort dazu kann und darf das nicht gewesen sein“, sagt Vassiliadis.

Dem springt auch Volkswirt Krebs bei. In der aktuellen Krise habe die Bundesregierung mit Stabilisierungspakt, Gas- und Strompreisbremse zwar einiges richtig gemacht, doch der nun auferlegte finanzpolitische Sparkurs drohe sich zu einem Debakel zu entwickeln, warnt er in der Böckler-Studie. „Eine energiepolitische Schocktherapie in Kombination mit einer Transformationspolitik, die der Größe der Herausforderung nicht gerecht wird, könnte zu einer wirtschaftlich verlorenen Dekade in ­Deutschland ­führen.“

Welchen Einfluss Entscheidungen der Bundesregierung auf Unternehmen haben können, zeigt das Beispiel von Mitsubishi HiTec Paper in Bielefeld. Seit 1799 gibt es diese Papierfabrik schon, doch nach der Explosion der Energiekosten drohte ihr ein Kahlschlag: Fast jeden dritten der mehr als 500 Arbeitsplätze wollte der japanische Mutterkonzern streichen und Maschinen abbauen. Am Ende gelang es Betriebsrat und IGBCE jedoch, den Aderlass auf knapp 50 Stellen zu begrenzen und erfolgreich für Investitionen in die Modernisierung der Anlagen zu kämpfen.

„Die Energiepreisbremsen haben uns in die Karten gespielt“, sagt der Betriebsratsvorsitzende Dirk Hansmeier. Sie begrenzen aktuell nicht nur für Endverbrauchende, sondern auch für die Industrie das Preisrisiko am Markt. So konnte die Belegschaftsvertretung erfolgreich dafür werben, dass in Bielefeld Papierverpackungen nicht nur für Lebensmittel, sondern künftig auch verstärkt für andere Konsumprodukte hergestellt werden. Transformation konnte sehr konkret gestaltet werden, und mit Interessenausgleich und Sozialplan wurde ein breites Angebot für die Betroffenen geschnürt. Hansmeier hofft, dass man ohne betriebsbedingte Kündigungen auskommen wird. „Erstmal“, sagt er, „sind wir erleichtert.“

Kanzler beim Beirat der IGBCE

Spring an die richtige Stelle

Schon seit Monaten dringt die IGBCE auf einen befristeten Brückenstrompreis für energieintensive Industrien wie die Chemie-, Papier- oder Keramik-Branche – und erhöht den Druck auf Kanzler Olaf Scholz.

Beim Chemiegipfel im Kanzleramt setzte sich IGBCE-Chef Michael Vassiliadis für die Interessen der von hohen Energiepreisen und überbordender Regulierung gebeutelten Branche ein. „Der Chemiegipfel war ein erster und wichtiger Schritt zur Verbesserung der Standortbedingungen – die Beschäftigten erwarten und brauchen aber mehr“, bilanzierte er nach dem Treffen mit dem Bundeskanzler, mehreren Bundesminister*innen sowie Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten. Die Lage der Chemieindustrie sei „akut dramatisch“, die Branche müsse bei den Stromkosten entlastet werden. „Andernfalls droht der Chemie ein Aderlass, den wir uns weder volkswirtschaftlich noch gesellschaftlich noch klimapolitisch leisten können.“ Die Politik müsse handeln, der Gipfel sei noch „zu kleines Karo“ gewesen.

Dass aber beileibe nicht nur die Chemie von den hohen Energiepreisen stark bedroht ist, machte der 150-köpfige Beirat der IGBCE wenige Tage später klar: Das Gremium hatte den Kanzler zu einem Besuch eingeladen, um Scholz bei dem rund einstündigen, nicht-öffentlichen Treffen von den akuten Ängsten und Sorgen in ihren Betrieben zu berichten.

Der Bundeskanzler war dabei überpünktlich: Bereits um 8.52 Uhr – acht Minuten vor dem offiziellen Zeitplan – betrat Olaf Scholz den Tagungssaal des Hotels am Berliner Flughafen. Die zusätzliche Zeit war gut zu gebrauchen. In seiner kurzen Begrüßungsrede wies IGBCE-Chef Michael Vassiliadis auf das Bündel der Herausforderungen hin, lobte aber auch die Regierung. Sie sei die erste, die nicht nur Lösungen etwa zum Ausbau der Erneuerbaren Energien und der Netze ins Schaufenster stellt, aber dann nichts oder nur wenig davon umsetzt. „Dies ist die erste Regierung seit Jahrzehnten, die sich ernsthaft den Problemen stellt, nichts beschönigt und sich jetzt wirklich um die Realisierung kümmert.“ Gerade die IGBCE, die überwiegend energieintensive Branchen wie Chemie, Papier oder Keramik vertritt, wisse, wie angespannt die aktuelle Lage sei. Die Probleme würden sich summieren.

„Dennoch sind wir nicht bereit, in die allgemeine Klage und Standortdebatte einzusteigen“, so Vassiliadis. „Denn das Bild, das viel zu tun ist, stimmt zwar. Aber das Bild, das aktuell nichts getan wird von der Regierung, das stimmt nicht.“ Nun brauche es auch einen Standort-Patriotismus der Unternehmen – und einen Brückenstrompreis von der Regierung, um für die energieintensiven Branchen eine Übergangslösung bis 2030 zu bieten – dann soll es laut Ausbauplänen ausreichend günstigen Strom aus Erneuerbaren geben. Er nehme ein Verständnis in der Bundesregierung für die mittel- und langfristigen Problemlagen der IGBCE-Branchen wahr, hob Vassiliadis hervor. „Aber das nützt uns morgen nichts.“

Auch mehrere Beiratsmitglieder meldeten sich zu Wort, berichteten von Investitionsverzögerungen, stillstehenden Anlagen, drohenden Verlagerungen. So sagte Petra Kronen, Gesamtbetriebsratsvorsitzende bei Covestro. „Bei Covestro wird gerade Realität, was man in der Presse liest: Die Kosten laufen aus dem Ruder, die Nachfragesituation ist katastrophal.“ Manche Anlagen im Konzern stünden ganz still, andere würden mit einer Auslastung von unter 50 Prozent laufen. „Wir müssten gerade jetzt investieren, in Nachhaltigkeit, Kreislaufwirtschaft, Forschung und Entwicklung, Fachkräfte, Ausbildung." Aber angesichts überhöhter Energiepreise fehle die wirtschaftliche Kraft, so Kronen. „Egal, was wir tun: Wir müssen es schnell tun“, gab sie Scholz mit auf den Weg. „Uns läuft die Zeit davon“, erklärte auch Gertraud Meyer, Betriebsratsvorsitzende beim Autozulieferer Plastic Omnium. Vassiliadis sicherte Scholz zu: „Bei allen Transformationsvorhaben der Regierung sind wir gern mit dabei. Aber zwischen heute und dem angepeilten Datum 2030 brauchen wir eine Brücke. Mehr wollen wir nicht.“

Der Kanzler zeigte Verständnis für die Sorgen und Nöte. Er erläutert in der vertraulichen Sitzung, welche konkreten Maßnahmen die Ampel-Regierung plant, um beispielsweise den Ausbau der Erneuerbaren und der Übertragungsnetze konkret weiter zu beschleunigen, das Thema Wasserstoff voranzutreiben, die Energieversorgung abzusichern. Auch die Komplexe Fachkräftemangel und Zuwanderung habe man im Blick, ebenso wie die Themen Bildung, Digitalisierung oder überbordende Regulierungen etwa für die Chemie-Industrie. Er machte deutlich, dass man sich um die Rahmenbedingungen des Standorts kümmere. Es brauche insgesamt mehr Tempo in Deutschland.

Konkrete Zusagen allerdings blieben aus. Die IGBCE will nun in den kommenden Wochen das Thema Brückenstrompreis weiter am Köcheln halten – unter anderem mit einer bundesweiten Aktionswoche in den Betrieben.

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