Arbeit & Gesellschaft

Kompass

„Wir brauchen Pragmatismus“

Text Lars Ruzic – Illustration Eugen Schulz

Verunsicherung in den Industriebelegschaften, Politik in der Krise: Wie baut die IGBCE für bewegte Zeiten vor? Diese und andere aktuelle Fragen stehen im Zentrum der neuen „Kompass“-Folge mit dem IGBCE-Vorsitzenden Michael Vassiliadis.

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Michael, ausnahmsweise stehen wir bei diesem „Kompass“ hier zu zweit. Einerseits wollen wir nämlich über die Zukunft der IGBCE selbst sprechen, andererseits wollen wir die aktuellen politischen Ereignisse die erneute Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten und der Bruch der Ampelkoalition in Deutschland natürlich nicht außer Acht lassen. Schließlich haben auch sie am Ende Auswirkungen auf die IGBCE-Mitglieder. Worauf müssen wir uns einstellen?

Michael Vassiliadis: Die USA sind nicht irgendein Land, sondern eine Supermacht militärisch wie auch wirtschaftlich. Alles, was dort geschieht, hat auch Auswirkungen auf uns. Von Trump wissen wir, was er an uns kritisiert: dass wir mindestens finanziell zu wenig für unsere eigene Verteidigung tun und dass unsere Handelsbeziehungen zu den USA aus seiner Sicht unfair sind. Heißt konkret: dass wir deutlich mehr dorthin exportieren als von dort importieren. Es ist also davon auszugehen, dass er über das Thema Zölle nicht nur viel redet, sondern dass da etwas passieren wird. Und sein konservativer rechter Blick auf die Welt wird seine Sicherheits-, Entwicklungs- und Migrationspolitik prägen. Auf all das müssen wir uns einstellen zumal das Themen sind, die wir in Europa auch diskutieren. Wir stehen also vor Jahren, in denen wir viele politische Entscheidungen werden treffen müssen und zwar über strategische Weggabelungen, nicht über irgendwelche Details.

Foto: Stefan Koch

Michael Vassiliadis, geboren 1964, ist seit 2009 Vorsitzender der IGBCE. Nach seinem Realschulabschluss absolvierte der gebürtige Essener eine Ausbildung zum Chemielaboranten bei der Bayer AG in Dormagen. Seine hauptamtliche Gewerkschaftstätigkeit startete er als Sekretär der IG Chemie-Papier-Keramik, einer Vorgängerorganisation der IGBCE. 2004 wurde er erstmals in den geschäftsführenden Hauptvorstand der IGBCE gewählt. Seit Mai 2012 ist Vassiliadis gleichzeitig Präsident des Dachverbands europäischer Industriegewerkschaften IndustriALL Europe.

Ausgerechnet in dieser Zeit steht Deutschland vor vorgezogenen Neuwahlen. Was muss eine neue Bundesregierung angehen?

Es gibt derzeit eine Menge sehr grundsätzlicher Fragen, die zur Genüge diskutiert worden sind und jetzt konkret gemanagt werden müssen: Wie organisieren wir Wachstum in einer alternden Gesellschaft? Wie befördern wir gewollten Zuzug und verhindern gleichzeitig illegale Migration? Wie kommen wir bei Infrastruktur und Investitionen endlich wieder in die Vorhand? Wie können wir Sicherheit allgemein und soziale Sicherheit im Besonderen stärken? Und schließlich: Wie organisieren wir die politisch gewollte Transformation unserer Industrie zur Klimaneutralität, sodass die Unternehmen am Standort auch investieren wollen? Wenn wir hier nicht zu einer Neujustierung und mehr Pragmatismus in der Umsetzung kommen, wird das nicht funktionieren.

Viele der Themen drängen ja schon lange. Was wäre aus IGBCE-Sicht so dringlich, dass es noch vor der nächsten Wahl vom Parlament auf den Weg gebracht werden sollte?

Wir sind ja mit der aktuellen Regierung schon länger im Gespräch über die Frage, was getan werden kann, um die Industrie in der aktuellen Krise zu stabilisieren und ihr Signale zu geben, dass sich die Rahmenbedingungen für Produktion und Investitionen in Deutschland schnell wieder verbessern. Da geht es beispielsweise um Entlastung bei den Stromkosten, die in Deutschland immer noch zu hoch sind im internationalen Wettbewerb. Das Thema hat ja auch die Union erkannt und vergleichbare Forderungen aufgestellt. Die Frage wäre also, ob sich die demokratischen Kräfte nicht schon jetzt zu einer gemeinsamen Lösung durchringen können, bevor sich die Lage in den kommenden Monaten für mehr und mehr Unternehmen weiter zuspitzt. Natürlich werden jetzt noch viele andere Themen aufs Tapet gebracht. Aber da muss man sich eben zusammensetzen und gemeinsam priorisieren. Es geht schließlich um das Land und die Menschen, die zur Wahl gehen sollen. Da erwarte ich, dass man jetzt noch mal miteinander redet. Und danach kann man dann auch Wahlkampf machen.

Wir müssen uns neu aufstellen, um uns an den Wandel anzupassen und die nötige Power auf die Straße zu bringen.

Michael Vassiliadis,
Vorsitzender der IGBCE

Auch in der IGBCE selbst ist aktuell viel in Bewegung. Ihr habt zwei Zukunftsprogramme aufgelegt – KLAR und STARK. Was hat es damit auf sich und was wollt ihr damit erreichen?

Wir haben eben ja schon besprochen, dass der Druck auf unsere Branchen, die fast alle energieintensiv sind, aktuell sehr hoch ist. Das macht natürlich etwas mit den Beschäftigten, also unseren Mitgliedern und damit zwangsläufig auch mit uns als Gewerkschaft. Unsere Mitglieder haben in der Regel gut bezahlte, vergleichsweise sichere Arbeitsplätze und gehörten meist zum zuversichtlicheren Teil der Gesellschaft. Diese Zuversicht wird zunehmend von Verunsicherung abgelöst. Die Mehrheit unserer Mitglieder weiß aktuell nicht, ob es ihnen in fünf Jahren finanziell besser gehen wird als heute. Das ist ein Auftrag für uns. Hinzu kommt, dass wir als Gewerkschaft in neue Branchen hineinwachsen, die längst nicht so gut organisiert sind, wie es einst der Bergbau war. Auch da gibt es einiges zu tun. Wir müssen uns intern neu aufstellen, um uns an den Wandel anzupassen und die nötige Power auch auf die Straße zu bringen. Dazu dient das ProjektSTARK für die Zukunft“. Mit „KLAR für die Zukunft“ wiederum wollen wir Vorarbeit leisten für die inhaltliche Ausrichtung der kommenden Jahre. Darüber beschließen wird natürlich der Gewerkschaftskongress im Oktober 2025. Aber die Erörterungen dazu haben bereits begonnen unter anderem mit unserer digitalen „Zukunftswerkstatt“. Solche Projekte sind wichtig, um strategisch vor der Welle zu bleiben.

Moderatorin Lea Karrasch und Michael Vassiliadis blicken in der aktuellen Folge auch auf die Ziele der IGBCE.

Foto: Lars Ruzic

Gleichzeitig wollt ihr die gewerkschaftliche Basisarbeit stärken. Wie soll das konkret aussehen?

Im Kern geht es darum, auf Bezirksebene mehr finanzielle Mittel frei zu machen, um neue Mitglieder zu gewinnen, noch nicht organisierte Betriebe zu erschließen und noch mehr Unternehmen in die Tarifbindung zu bringen. Dafür braucht es eine neue Balance zwischen der Betreuung bestehender und der Ansprache neuer Mitglieder. Das Wichtigste ist, im Betrieb für unsere Mitglieder Schutz zu organisieren vor Arbeitsplatzverlust, Arbeitgeberwillkür und ­Tariflosigkeit.

In NRW fusionieren zum 1. Januar 2026 die beiden Landesbezirke Nordrhein und Westfalen. Was versprecht ihr euch davon?

Im Prinzip vollziehen wir nur nach, was bei allen anderen Gewerkschaften in NRW schon lange gilt: ein Landesbezirk für ein Bundesland. Das stärkt die politische Arbeit und den Kontakt zur Landesregierung. Es wächst zusammen, was zusammengehört. Die Trennung ist nur historisch zu erklären, weil wir nach der Fusion zur IGBCE in der Region des Bergbaus, der Chemie und der Energie so viele Mitglieder hatten, dass das in einem Landesbezirk gar nicht zu bewerkstelligen war. Das hat sich aber nach dem Ende des Steinkohlenbergbaus normalisiert. Wir wollen die Zusammenführung in NRW nutzen, um ein Labor für die Gewerkschaftsarbeit der Zukunft zu schaffen.

Wir müssen die Wachstumsbranchen der Zukunft, etwa im Pharma- und Biotechbereich, in Deutschland sichern.

Michael Vassiliadis,
Vorsitzender der IGBCE

Der Hauptvorstand hat seine fünf geschäftsführenden Mitglieder mit dir an der Spitze gerade einstimmig für die Wiederwahl auf dem Kongress in einem Jahr nominiert. Warum geschah das so früh?

Im Prinzip haben wir darüber schon gesprochen. Es ist derzeit so viel Verunsicherung in unseren Belegschaften und dadurch auch in der Organisation, dass frühe Klarheit und ein Signal von Stabilität an der Spitze sinnvoll ist. Zum Zweiten ist damit auch für die diversen Delegiertenkonferenzen auf Bezirks- und Landesbezirksebene, die Ende Januar starten, schon vorab klar, wer sich erneut bewirbt. Den Generationenwechsel hatten wir ja bereits im vergangenen Jahr mit dem Einstieg von Alexander Bercht und Oliver Heinrich organisiert. Wir sind jetzt bestens aufgestellt vergleichsweise jung und doch erfahren.

Ihr tretet an für weitere vier Jahre, die Amtsperiode endet 2029. Wo steht die deutsche Industrie am Ende des Jahrzehnts? Und wo die IGBCE?

Entscheidend wird sein, dass uns in den kommenden Jahren tatsächlich eine erfolgreiche Transformation in der Industrie gelingt und wir den Abbruch von Strukturen verhindern. Wandel und Anpassung gibt es seit jeher – und wir haben immer um die Arbeitsplätze gekämpft und den Mitgliedern im Zweifel eine neue Zukunft ermöglicht. Das wollen wir auch künftig schaffen. Gleichzeitig müssen wir die Wachstumsbranchen der Zukunft, etwa im Pharma- und Biotechbereich, in Deutschland sichern, um neue Potenziale zu erschließen. Viele auf der Industrieseite wollen etwas bewegen und sind pragmatisch und konstruktiv. Wenn wir für diesen Kurs die nötige Unterstützung in der Politik bekommen, dann geht da auch was. Ich jedenfalls bin ­motiviert.

IGBCE Kompass: Den Polit-Talk mit Michael Vassiliadis und Gast kannst du in voller Länge nicht nur in der digitalen Ausgabe dieses Magazins sehen und hören, sondern auch über die „Meine IGBCE“-App, im Web bei igbce.de sowie auf dem Youtube-Kanal deiner Gewerkschaft und auf allen gängigen Podcast-Plattformen. Dort lässt er sich auch leicht abonnieren.