Mehr als nur Wahlen
Wie lässt sich die Partizipation in der Arbeitswelt verbessern? Darüber debattierten der IGBCE-Vorsitzende Michael Vassiliadis und Jörg Sommer, Gründungsdirektor des Berlin Institut für Partizipation, im Kompass-Talk.
Podcast anhören
Wahlen sind das Hochamt der Demokratie“, heißt es so schön. Klingt so, als ginge beim Thema Bürgerbeteiligung nicht mehr. Wie blickst du darauf, Jörg?
Jörg Sommer: Sicherlich sind Wahlen die wichtigste und zentrale Säule einer Demokratie, aber es gibt noch zwei andere: die dialogische Beteiligung und die direkte Demokratie wie etwa bei Bürgerentscheiden. Wahlen bergen die Gefahr, dass sie schnell ins Ritualisierte hinübergleiten und so für viele Menschen an Bedeutung verlieren. Wir wissen, dass heute gut zwanzig Prozent der Bevölkerung gar nicht wählen, weitere zwanzig Prozent wählen nicht wirklich, sondern geben ihre Stimme ab aus Frustration, Rache oder um „die da oben“ mal zu ärgern. In solchen Fällen werden Wahlen von den Menschen nicht mehr wahrgenommen als Element der Partizipation, als Chance, mitzuwirken. Sondern viele haben inzwischen eine erlernte Hilflosigkeit und meinen, ihre Stimme zähle ohnehin nicht – und deshalb könnten sie auch unverantwortlich damit umgehen. Das ist eine große Gefahr für die Demokratie.

Foto: Deutsche Umweltstiftung
Jörg Sommer, geboren 1963, beschäftigt sich seit mehr als dreißig Jahren mit Fragen der Demokratie, der Bürgerbeteiligung sowie des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Der Sozialwissenschaftler und Publizist veröffentlichte zahlreiche Bücher, darunter ein Handbuch zur partizipativen Bildungsarbeit mit jungen Menschen. Sommer ist Gründungsdirektor des Berlin Instituts für Partizipation und in dieser Eigenschaft auch als Gutachter und Berater für Parlamente, Ministerien, Stiftungen und Verbände tätig. Zudem ist Sommer seit 2009 Vorstandsvorsitzender der Deutschen Umweltstiftung.
Was braucht es, um Menschen mehr partizipieren zu lassen an Politik, Michael?
Michael Vassiliadis: Zunächst mal ist es wichtig, dass die Menschen in diesem Land diesen Schatz, sich beteiligen zu können, ernst nehmen. Er ist hart erkämpft worden – übrigens auch von den Gewerkschaften. Und es gibt viele andere Menschen auf diesem Globus, die ihn nicht haben. Man darf dabei natürlich auch Ansprüche haben an diejenigen, die gewählt werden – oder auch mal frustriert sein. Nur: Zur Demokratie gehört auch, Verantwortung für seine Meinung und seine Wahlentscheidung zu übernehmen und deshalb genau abzuwägen. Aber Wahlen sind eben nur ein Mittel: Es gibt inzwischen ein beeindruckendes Potpourri an Beteiligungs- und Einflussmöglichkeiten – nicht nur für die Einzelperson, sondern auch für Gruppen. Die müssen wir stärker nutzen und ausbauen.
Darüber wollen wir heute genauer sprechen. Welche Rolle spielen Partizipation, Teilhabe und betriebliche Mitbestimmung dabei?
Sommer: Partizipation verstehen wir als aktive Teilhabe an einer sozialen Struktur, verbunden mit Wirkungsanspruch. Das Spektrum ist dabei sehr breit, reicht vom Engagement in Parteien und Gewerkschaften bis hin zur Teilnahme an einer Kundgebung. Wir haben bei uns ein relativ hohes Partizipationsniveau, allerdings nur für einen Teil der Bevölkerung.
Vassiliadis: Entscheidend ist, dass man sich in eine breite Meinungsfindung und -abstimmung aktiv einbringen kann und sollte. Und dass man sich im Prozess zivilisiert einigt, sodass das Interesse der Gemeinschaft und die Freiheit der Einzelperson in Balance gebracht werden. Das erfordert Engagement.
Wer Mitbestimmung stärkt, stärkt Partizipation.
Jörg Sommer,
Gründungsdirektor des Berlin Instituts für Partizipation
Wie ist es denn um die Partizipation im Betrieb heute genau bestellt?
Vassiliadis: Vieles ist erreicht worden, aber einiges noch offen. Das Betriebsverfassungsgesetz gibt den Betriebsräten viele Möglichkeiten. Aber genau in der sensiblen Phase einer Betriebsratsgründung werden die Menschen, die sich engagieren wollen, nicht ausreichend geschützt. Da fordern wir schon seit mehr als zehn Jahren Nachbesserungen von der Politik. Auch die neue Koalition hat das Thema auf dem Tisch. Ich bin mir aber noch nicht so sicher, ob das wirklich kommen wird. Wir werden jedenfalls weiter dafür kämpfen.
Sommer: Mitbestimmung und Betriebsratswahlen stehen im Zentrum der betrieblichen Demokratie. Aber man sollte den Beschäftigten – wie eben auch den Menschen in der Zivilgesellschaft – die Chance geben, sich auch zwischen den Wahlen aktiv einzubringen. Entscheidend ist, dass Betriebsräte und Gewerkschaften diese Angebote nicht als Konkurrenz zur rechtlich geregelten Mitbestimmung sehen, sondern als Ergänzung. Wer Mitbestimmung stärkt, stärkt Partizipation. Und umgekehrt. Gerade die junge Generation hat Partizipation im Privatleben gelernt und fordert heute auch vom Arbeitgeber mehr als nur Anordnen und Ausführen. Da können auch Belegschaftsvertretungen ansetzen, und viele machen das schon – etwa, in dem sie „Angestelltenfrühstücke“ organisieren oder Arbeitsgruppen mit Beschäftigten zu bestimmten Themen einrichten. Das alles ist Partizipation. Davon werden wir in den kommenden Jahren noch mehr erleben – erst recht mit Blick auf den Strukturwandel in der Industrie. Transformation wird ohne Partizipation nicht funktionieren – in der Gesellschaft nicht, und im Betrieb erst recht nicht.
Vassiliadis: Wir werden uns auch mit der Frage beschäftigen, welche Rolle die gewerkschaftlichen Vertrauensleute hierbei spielen. Auch in dieser klassischen Form der Vertretung ist viel im Wandel – und im Moment verzichten wir da noch auf zu viel Kompetenz.

Michael Vassiliadis (links) und Jörg Sommer im Gespräch mit Moderatorin Lea Karrasch.
Foto: Lars Ruzic
Unter anderem deshalb habt ihr – IGBCE und Berlin Institut für Partizipation – ja das Kompetenzzentrum Partizipation in der Arbeitswelt (PIDA) gegründet. Was soll es genau leisten?
Sommer: Zunächst mal geht es darum, diesen komplexen Bereich zu erfassen, Erfahrungen und Einstellungen der Funktionärinnen und Funktionäre dazu abzufragen. Die blicken beispielsweise sehr progressiv darauf: 91 Prozent wünschen sich mehr Partizipation für alle Beschäftigten im Betrieb. Wir stehen da noch am Anfang des Prozesses und müssen uns auch noch mit der Frage auseinandersetzen, was das eigentlich für unsere Gewerkschaftsarbeit heißt.
Vassiliadis: Heute sind die Berufsbilder, Arbeitsbedingungen und Lebensstile so ausdifferenziert, dass auch in der Belegschaftsvertretung „One size fits all“-Lösungen an ihre Grenzen stoßen. Natürlich will nicht jede und jeder Beschäftigte Partizipationsangebote nutzen – aber die Zahl derjenigen wächst. Deshalb müssen und wollen wir die Beteiligungsmöglichkeiten erweitern.
Sommer: Es geht darum, Interessenkonflikte miteinander wertschätzend und im Dialog auszutragen und schließlich gemeinsame Linien zu finden. Partizipation löst die Konflikte nicht, sie macht sie behandelbar. Zur Lösung braucht es dann immer noch starke Gewerkschaften, Betriebsräte, Tarifparteien und so weiter. Auch für das Engagement in der IGBCE selbst bietet Partizipation große Chancen. Denn Partizipation stärkt das Selbstbewusstsein des und der Einzelnen – und damit der Belegschaften im Betrieb und der Mitgliedschaft insgesamt.
Vassiliadis: Wir befinden uns als IGBCE im Vorfeld unseres Gewerkschaftskongresses im Oktober gerade in den Wahlen unserer Ehrenamtlichen. Das sind gut 30.000 an der Zahl, die sich entschieden haben, sich bei uns aktiv zu engagieren. Diese Kraft müssen wir stärker nutzen als in der Vergangenheit – auch mithilfe von Partizipation. Es geht um ihre breitere Einbindung und Ermächtigung, die Herausforderungen auch direkt vor Ort zu lösen. Dazu müssen wir ihnen mehr Verantwortung, aber auch mehr Vertrauen geben. Wir brauchen eine Verbreiterung der partizipativen Selbststeuerung, um die Herausforderungen der Transformation meistern zu können. Wir wollen die Partizipation in der IGBCE auf eine neue Stufe heben.
Wenn man in einem Partizipationsprozess schon vorher weiß, was herauskommt, ist es keiner.
Jörg Sommer,
Gründungsdirektor des Berlin Instituts für Partizipation
Mach den Test!
Wie steht es in deinem Betrieb um das Thema Partizipation? Finde es heraus – mit dem Teilhabeindex TIX. Der TIX bietet dir die Möglichkeit, Teilhabe in deinem Betrieb verlässlich und systematisch zu erfassen. Er wurde vom IGBCE-Projekt PIDA (Partizipation in der Arbeitswelt) gemeinsam mit dem Berlin Institut für Partizipation entwickelt und liefert eine Analyse der Beteiligungs- und Mitbestimmungskultur im jeweiligen Betrieb.
Der TIX basiert auf einer anonymen Onlinebefragung der Beschäftigten im Betrieb. Im Ergebnis steht eine Punktzahl zwischen 0 und 100, die Auskunft darüber gibt, wie umfassend und wirksam Mitbestimmung und Beteiligung im jeweiligen Betrieb gelebt werden. Ein hoher TIX-Wert steht für eine ausgeprägte Teilhabekultur. Ein niedriger Wert zeigt, dass es Entwicklungspotenzial gibt.
Wie genau könnten die Veränderungsprozesse auf diesem Weg aussehen?
Sommer: Das muss am Ende natürlich die IGBCE selbst entscheiden, ich kann da nur beraten. Aus meiner Sicht gibt es zwei Prinzipien zu beachten. Erstens: Partizipation lernt man nur, indem man es macht. Da muss man auch Fehler in Kauf nehmen und daraus dann lernen. Zweitens: Wenn man in einem Partizipationsprozess schon vorher weiß, was herauskommt, ist es keiner. Das ist auch für eine Gewerkschaft als Kampforganisation eine Lernaufgabe. Es gilt herauszufinden, wo Partizipation geht und wo nicht. Richtig eingesetzt, kann sie eine clevere Form der Mitgliedergewinnung sein. Denn am Ende muss es meines Erachtens darum gehen, als partizipativere Gewerkschaft eine stärkere Gewerkschaft zu werden.
Vassiliadis: Wir können auf ersten positiven Erfahrungen mit Partizipationsprojekten aufbauen – etwa bei der Beschäftigtengruppe der kaufmännisch Angestellten und der außertariflich Beschäftigten. Daraus müssen wir lernen, den Mut haben, offen zu sein und auch das Ergebnis nicht vorzugeben. Wir sehen darin eine große Chance und werden uns nun an die Arbeit machen, Formen und Projekte zu entwickeln. Das Ganze wird nicht gleich morgen flächendeckend greifen können. Aber auf dem Gewerkschaftskongress wollen wir den Startschuss für einen nächsten Schritt machen. Ich freue mich darauf.
IGBCE Kompass: Den Polit-Talk mit Michael Vassiliadis und Gast kannst du in voller Länge nicht nur in der digitalen Ausgabe dieses Magazins hören, sondern auch über die „Meine IGBCE“-App, im Web bei igbce.de sowie auf dem Youtube-Kanal deiner Gewerkschaft anschauen. Außerdem findest du den Talk auf allen gängigen Podcast-Plattformen. Dort lässt er sich auch leicht abonnieren.