Arbeit & Gesellschaft

Hintergrundstory

Zeit, dass sich was dreht

Text Lars Ruzic und Isabel Niesmann

Illustration: Jindrich Novotny | publish!

Die neue Bundesregierung will schnell Investitionen in der Industrie anschieben, die EU-Kommission plant noch vor der Sommerpause einen Chemie-Aktionsplan: Es kommt Bewegung in die Politik. Und die Unternehmen? Streichen unvermindert Stellen und schleifen die Standorte. 50.000 gut bezahlte Arbeitsplätze drohen, in unseren Branchen wegzufallen. Die IGBCE fordert ein Umdenken: investieren statt lamentieren!

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Jetzt soll es ganz schnell gehen. „Ich möchte, dass Sie, liebe Bürgerinnen und Bürger unseres Landes, schon im Sommer spüren: Hier verändert sich langsam etwas zum Besseren, es geht voran“, versprach der neue Bundeskanzler Friedrich Merz in seiner ersten Regierungserklärung und verband das mit einem Appell. „Wenn wir alle – jeder für sich und wir alle gemeinsam als ein Land daran arbeiten, dann kann das gelingen.“

Der Sommer steht quasi vor der Tür. Es wird also höchste Zeit, dass sich was dreht.

Aktuell jedenfalls verschärft sich die Krise in den IGBCE-Branchen von Tag zu Tag. Kaum eine Industrie, die aktuell nicht mit Schließungsplänen Schlagzeilen macht – und das, obwohl es im ersten Quartal immerhin wieder ein Wirtschaftswachstum von 0,4 Prozent gab. Längst geht es um mehr als um kleinere „Personalanpassungen“ oder Sparprogramme. Es geht um Einschnitte von historischer Tiefe. Nur ein paar Beispiele:

Bayer

Erstmals in der Geschichte will der Konzern einen Standort in Deutschland schließen. 500 Jobs könnten in Frankfurt-Höchst bei Bayer wegfallen. Mit dem großen Preisdruck aus Asien begründet der Konzern die Pläne. Gesamtbetriebsrat (GBR) und IGBCE stellen sich gemeinsam dagegen. Die GBR-Vorsitzende Heike Hausfeld macht deutlich: „Wir werden den Standort nicht aufgeben und kämpfen für die Rechte der Kolleginnen und Kollegen.“ Aus Sicht des GBR stehen die Schließung sowie weitere Maßnahmen, die Personalreduzierungen an den deutschen Cropscience-Standorten beinhalten, zentralen sozialpartnerschaftlichen Vereinbarungen aus dem gemeinsam verabschiedeten Zukunftskonzept entgegen. Darin hatten sich Geschäftsleitung und Arbeitnehmerseite ausdrücklich dazu bekannt, den Heimatstandort Deutschland zu stärken.

„Diese Schließungspläne sind eine Zäsur in der 162-jährigen Konzerngeschichte und stehen in Widerspruch zum erklärten Bayer-Bekenntnis zum Heimatstandort Deutschland. Das ist inakzeptabel“, erklärt Francesco Grioli, Mitglied im geschäftsführenden Hauptvorstand der IGBCE.

Dow

Der US-Chemiekonzern Dow hat Ende April angekündigt, eine Schließung oder temporäre Stilllegung von Anlagen im ­sächsischen Böhlen und in Schkopau in Sachsen-Anhalt zu erwägen. Aktuell stünden die beiden Produktionsanlagen auf dem Prüfstand. Eine endgültige Entscheidung will das Unternehmen im Sommer treffen. Die IGBCE warnt vor drastischen Folgen für die Beschäftigten und die gesamte Region. Hunderte Menschen haben sich an Aktionen vor Ort beteiligt. Denn im mitteldeutschen Chemiedreieck ist Dow einer der größten Arbeitgeber und ein wichtiger Verbundstandort.

Für die Beschäftigten sei die Ankündigung ein Schock gewesen, so Andreas Zielke, Betriebsratsvorsitzender in Böhlen. „Wir fühlen uns vor den Kopf gestoßen. Das kam so aus dem Nichts.“ Er hob hervor: „Wenn der Cracker geschlossen werden sollte, dann ist das für alle 650 Beschäftigten der Dow in Böhlen, den Industriestandort Böhlen/Lippendorf und die ganze Region eine Hiobsbotschaft.“ Ähnlich dramatisch wären die Auswirkungen auf den wichtigen Verbundstandort der Dow in ­Schkopau, von dem in der Wertschöpfungskette zahlreiche Unternehmen abhängen. Dieter Macke, der dortige Betriebsratsvorsitzende, betonte: „Wir werden alles dafür tun, um Anlagenschließungen zu verhindern. Wir werden für unsere Arbeitsplätze und für gute Perspektiven in Deutschland kämpfen und auch die Politik in die Pflicht nehmen.“

Von Arbeitsplatzabbau und Schließung bedroht …

… das Bayer-Werk im Industriepark Frankfurt-Höchst.

… die Anlagen des US-Chemiekonzerns Dow im sächsischen Böhlen.

… das traditionsreiche Werk der Papierfabrik Felix Schoeller in Penig.

… der BASF-Standort in Köln-Knapsack.

… der Unternehmenshauptsitz von Britax Römer im bayerischen Leipheim.

… der BASF-Standort in Frankfurt-Höchst.

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Felix Schoeller

Auf mehr als 480 Jahre Geschichte blickt das traditionsreiche Werk der Papierfabrik Felix Schoeller in Penig zurück. Sie gilt als die älteste noch produzierende Papierfabrik Deutschlands. Und nun steht sie vor dem Aus: Die Felix Schoeller Holding hat im Februar angekündigt, den Standort bis Ende Juni 2025 zu schließen. 119 Beschäftigte verlieren ihre Arbeit. Die Schließung begründet das Unternehmen mit einer schwachen Marktentwicklung und steigendem Kostendruck und das, obwohl die Auslastung in dem Werk gut und die Nachfrage so hoch ist, dass die Beschäftigten aktuell sogar an Feiertagen arbeiten sollen.

Klaus Wirth, IGBCE-Gewerkschaftssekretär im Bezirk Dresden-Chemnitz, erklärt dazu: „Das ist ein Schlag ins Gesicht für alle Beschäftigten.“ Die Ankündigung des Unternehmens sei umso unverschämter, weil den Beschäftigten noch am Jahresende 2024 versichert wurde, dass sie sich keine Sorgen um die Zukunft machen müssten und das Dekorpapier profitabel produziert würde.

Britax Römer

Aus heiterem Himmel traf die Beschäftigten, den Betriebsrat und die IGBCE die Ankündigung des Unternehmens Britax Römer, dass die Produktion der bekannten Kindersitze in Leipheim geschlossen werden soll. Produktion und Logistik sollen nach Asien verlegt werden. Nur Teile der Verwaltung bleiben in Deutschland. Von der Schließung sind viele Mitarbeitende betroffen, die Britax Römer seit Jahren treu sind, obwohl der Umzug 2017 von Ulm nach Leipheim für sie mit enormen Mehrbelastungen und deutlich längeren Arbeitswegen verbunden war. „Die Beschäftigten haben es verdient, dass in aller Gründlichkeit nach Alternativen gesucht wird, die ihre Entlassung verhindern!“, betont Torsten Falke, IGBCE-Bezirksleiter in Augsburg.

BASF

Der Chemiekonzern BASF hat bereits im vergangenen Jahr angekündigt, seine Werke in Köln-Knapsack und im Industriepark Höchst in Frankfurt bis Ende 2025 zu schließen – rund 300 Jobs sollen abgebaut werden. Auch hier ein historischer Einschnitt: Erstmals mussten beide Seiten bei Sozialplanverhandlungen in die Einigungsstelle. Auch nach monatelangen Verhandlungen war der Konzern nicht bereit, sich mit den Arbeitnehmervertretungen über angemessene Abfindungen, den Ausgleich großer Verluste in der Altersvorsorge und Kriterien für eine zumutbare Weiterbeschäftigung in anderen BASF-Gesellschaften zu verständigen. In der Einigungsstelle hat ein neutraler Arbeitsrichter die Aufgabe übernommen, einen Kompromiss zu finden. Hintergrund für die Standortschließungen ist die Entscheidung von BASF, sich aus der Herstellung des Herbizids Glufosinat-­Ammonium zurückzuziehen.

EU-Chemiegipfel bei Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (vorn Mitte): Neben diversen Konzernchefinnen und -chefs aus der Branche zählte auch Michael Vassiliadis, Vorsitzender der IGBCE und Präsident von industriAll Europe (hintere Reihe, Fünfter von links), zu den Teilnehmenden.

Foto: Cefic

Schnelles Handeln nötig

Das sind nur fünf Beispiele von Hunderten, bei denen die IGBCE für die Zukunft der Beschäftigten kämpft. Der Abbau von rund 25.000 gut bezahlten, tariflich sauber geregelten Arbeitsplätzen ist schon nicht mehr abwendbar. Noch einmal so viele könnten in den kommenden Monaten hinzukommen, wenn nicht endlich gegengesteuert werde, mahnt der IGBCE-Vorsitzende Michael Vassiliadis. Zu lang schon bremse eine Politik des Abwartens und Hinhaltens das Land aus. „Jede Stunde zählt! Wir brauchen jetzt den Turbo für Industriearbeitsplätze! Wir brauchen jetzt den Turnaround für unsere Branchen!“ Deshalb müsse die neue Koalition nun klare Prioritäten setzen und die Vorhaben zuerst starten, die schnell entlasten und Modernisierung ermöglichen.

Schaut man in den 146-seitigen Koalitionsvertrag, so scheint sie dazu immerhin gewillt. Die Bedeutung der Industrie und ihrer Arbeitsplätze für den gesamtgesellschaftlichen Wohlstand und den gesellschaftlichen Zusammenhalt werden erkannt und ihre Stärkung zu einem zentralen Schwerpunkt des weiteren Handelns erklärt. So plant Schwarz-Rot eine Vielzahl von Maßnahmen, die die IGBCE seit Jahren fordert. Ein Überblick.

  • Unsere überteuerte Energie ­billiger machen: Die Stromsteuer soll auf EU-Mindestmaß sinken, Umlagen und Netzentgelte sollen reduziert werden. Die gerade für die energieintensiven Branchen wichtige Strompreiskompensation soll auf mehr Betriebe ausgeweitet werden. Der Industriestrompreis, der Deutschland als Standort auf ein international vergleichbares Kostenniveau bringen soll, ist angekündigt.
  • Investitionen in die Industrie und die Jobs von morgen anheizen: Ein Abschreibungsbooster soll Neuinvestitionen in Maschinen und Anlagen ankurbeln. Ein „Deutschlandfonds“ soll Wachstumsbranchen und Technologiefirmen mit zusätzlichem Kapital ausstatten. Die Genehmigungsverfahren für Industrievorhaben sollen schnell und spürbar verschlankt werden.
  • Die Transformation der Industrie realistisch und bezahlbar machen: Das 500 Milliarden Euro schwere Sondervermögen kann unter anderem zum dringend notwendigen Ausbau der Energieinfrastruktur verwendet werden. Die Speicherung von Kohlendioxid in der Tiefe, das sogenannte CCS, soll erlaubt werden davon profitieren vor allem Branchen, deren CO₂-Emissionen unvermeidbar sind. Klimaschutzverträge, mit denen der Staat Großinvestitionen in eine CO₂-senkende Produktion fördert, werden fortgeschrieben. Zusätzliche Reservekapazitäten in der Energieversorgung – vor allem Gaskraftwerke sollen schnell auf den Weg gebracht werden. Das Wasserstoffnetz soll bundesweit ausgebaut und die Wasserstofferzeugung unabhängig von der „Farbe“ des Energieträgers ­angeschoben ­werden.
  • Unsere IGBCE-Branchen stark aufstellen für die Zukunft: Der Koalitionsvertrag sieht vor, „Deutschland zum weltweit innovativsten Chemie-, Pharma- und Biotechnologiestandort“ zu machen. Gemeinsam mit Ländern, Unternehmen und IGBCE soll dazu eine „Chemieagenda 2045“ erarbeitet werden. Die Rohstoffgewinnung soll gefördert, Digitalisierung und Kreislaufwirtschaft vorangetrieben werden. In der Chemiekalienpolitik lehnt Schwarz-Rot Totalverbote ganzer Stoffgruppen ab und verfolgt einen risikobasierten Ansatz.

„Wir werden alles daransetzen, Deutschlands Wirtschaft wieder auf Wachstumskurs zu bringen“, so Merz. So weit, so gut.Aber jetzt kommt es darauf an, dass aus solchen Absichtserklärungen schnell konkretes Handeln wird“, fordert Vassiliadis.

Wir erwarten ein klares Bekenntnis zum Standort Deutschland und zu den Beschäftigten.

Michael Vassiliadis,
Vorsitzender der IGBCE

Foto: Stefan Koch

EU-weiter Aktionsplan für die Chemieindustrie

Dass Handeln gefragt ist, hat auch die EU-Kommission erkannt. Erstmals hat sie Mitte Mai die wichtigsten Vertreterinnen und Vertreter der Industrie zu einem Chemiegipfel eingeladen. Daraus soll noch bis zur Sommerpause ein EU-weiter Aktionsplan entstehen. Problemfelder wie hohe Energiekosten, unsichere Standortbedingungen und offene Transformationsfragen werden in Angriff genommen, die Chemiebranche als Schlüsselindustrie für Wachstum, Wohlstand und Resilienz in Europa anerkannt. „Die chemische Industrie hat das Potenzial, wieder ein Wachstumsmotor zu werden – und das in einer Weise, die ökologische und soziale Verantwortung vereint“, sagt der IGBCE-Vorsitzende, selbst Teilnehmer des EU-Gipfels.

Es sei richtig und wichtig, dass Bundesregierung und EU-Kommission an einem Strang ziehen, um die Rahmenbedingungen für diese Schlüsselindustrie zu verbessern. „Darin liegt eine große Chance, die wir jetzt nutzen müssen“, macht Vassiliadis deutlich. Doch dafür brauche es auch Unternehmen, die den Steilpass aufnehmen und in ein Tor verwandeln. Heißt konkret: mutig in Innovationen und Standortmodernisierung investieren, statt pauschal über Standortbedingungen, Arbeitsmoral und Arbeitskosten zu klagen. „Der Versuch der Arbeitgeberverbände, viele fleißige Menschen in diesem Land zum aktiven Teil der Wirtschaftsschwäche zu erklären, ist absurd“, echauffierte sich der Gewerkschaftsvorsitzende.

Die Politik zeige spürbaren Ehrgeiz und die Ambition, die deutsche Wirtschaft grundlegend und nachhaltig zu stärken. „Nicht weniger erwarte ich jetzt von den Unternehmenslenkern“, betonte Vassiliadis. „Wir erwarten ein klares Bekenntnis zum Standort Deutschland und zu den Beschäftigten. Und wir erwarten umfassende Investitionen in zukunftsfähige Produktionen und eine echte Partnerschaft auf Augenhöhe.“ Diese Forderung hat der IGBCE-Vorsitzende Dutzenden Chefinnen und Chefs der größten Konzerne aus den IGBCE-Branchen bereits direkt übermittelt in einem persönlichen Schreiben mit der Überschrift „Standort Deutschland grundlegend und ­nachhaltig ­stärken“.

Im Detail macht sich der IGBCE-Vorsitzende darin nicht nur dafür stark, die Investitionszurückhaltung abzulegen, sondern auch, bereits beabsichtigte Engagements außerhalb Europas noch einmal auf den Prüfstand zu stellen. Ohnehin sei es angesichts der erratischen Handelspolitik der USA angebracht, die europäischen Standortvorteile wie Rechtssicherheit, Berechenbarkeit und die Stabilität der Rahmenbedingungen wieder stärker schätzen zu lernen.

Klar ist: Nur wenn die Betriebe wieder offensiv spielen, statt zu mauern, hat Deutschland die Chance, wieder in die Spitzengruppe der Industrienationen aufzurücken. „Wir werden als IGBCE nicht müde werden, die Arbeitgeber an ihre gesellschaftliche Verantwortung zu erinnern und den Wandel aktiv zu begleiten und zu unterstützen“, so Vassiliadis. „Gemeinsam können wir den Turn­around schaffen.“