Video: Astrid Sturm hat einen Theater- und Kulturkreis im IGBCE-Bezirk Darmstadt gegründet. Ihre Motivation erläutert sie im Video.
Gemeinsam in Geschichten fallen
Kultur sollte man in Gemeinschaft erleben, ist Astrid Sturm überzeugt. Seit zehn Jahren organisiert die ehemalige Event-Managerin aus Darmstadt inzwischen Theaterausflüge mit Unterstützung der IGBCE. Der Höhepunkt: Alle zwei Jahre geht es zu den Ruhrfestspielen, die ihren Ursprung im Bergbau und in der Gewerkschaftsarbeit haben.
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Welche Stücke sind besonders interessant für den Theater- und Kulturkreis? Dazu tauscht sich Astrid Sturm mit Rebekka König vom Staatstheater Darmstadt aus.
Es ist bezeichnenderweise eine Kollegin, die Astrid Sturms Liebe zum Theater entfacht. Rund dreißig Jahre ist das her. Die Frau nimmt sie nach Feierabend mit zu einer Vorführung. Welches Stück, weiß Sturm nicht mehr. Nur, dass es eine Komödie war. Und dass sie seitdem anders auf die Kunstform Theater blickt.
Zu trocken, zu abstrakt – eigentlich hatte ihr die Schule die Lust am Theater genommen. Da ging es nur ums Interpretieren. An diesem Abend aber merkt Sturm: Theater ist weit mehr als das. „Wir alle lieben Geschichten“, sagt sie heute. „Im Theater kann man sich ganz in sie fallen lassen.“
Sturm arbeitete als Event-Managerin beim Darmstädter Chemie- und Pharmaunternehmen Merck, organisierte nationale und internationale Veranstaltungen. Dann ging sie in den Ruhestand. Die Liebe zum Theater ist ihr all die Jahre geblieben. Mehr noch, sie gibt sie heute weiter – an Gewerkschaftskolleginnen und -kollegen.
Die Idee kam ihr 2015 bei einem Workshop der IGBCE im nordrhein-westfälischen Haltern am See. Es ging um gewerkschaftliche Kulturarbeit. „Natürlich hatte ich den Wunsch, dass daraus etwas Nachhaltiges entsteht“, sagt Sturm. „Für mich war klar: Es musste etwas mit Theater zu tun haben.“
Seitdem organisiert sie in ihrem Theater- und Kulturkreis gemeinsame Theaterausflüge für IGBCE-Mitglieder aus dem Bezirk Darmstadt – die meisten in der Stadt selbst, aber auch im Umland, etwa in Frankfurt oder Heidelberg.
Eine Kunstform für alle
Ihr Antrieb: Mit Vorurteilen und falschen Vorstellungen aufräumen. „Viele Menschen denken, sie müssen ein Stück gelesen haben, bevor sie ins Theater gehen“, sagt Sturm. „Oder sie glauben, dass man fürs Theater studiert haben muss.“ Beides stimme nicht, jeder könne bei Vorführungen etwas für sich mitnehmen. „Im Theater gibt es kein Richtig oder Falsch.“
Um passende Stücke zu finden, sichtet sie Spielpläne, telefoniert mit Theaterleitungen. Manchmal besucht sie auch Proben, um zu schauen, ob eine Inszenierung für ihre Gruppe geeignet ist.
Worauf sie bei der Auswahl achtet? „Das Stück muss mich natürlich ansprechen.“ Sturm interessiere sich vor allem für Schauspiel und modernes Tanztheater. Der Rest sei Bauchgefühl. Nach all den Jahren wisse sie, was bei bestimmten Autorinnen und Autoren, aber auch bei Regisseurinnen und Regisseuren zu erwarten sei.
Für eine Sache, sagt Sturm, würde sie allerdings auch über ihren Schatten springen und sich Stücke ansehen, die sie selbst vielleicht nicht brennend interessieren: Wenn es ihr dadurch gelingt, junge Menschen anzusprechen. Das ist ihr zweiter großer Antrieb. „Viele junge Menschen halten Theater für verstaubt und antiquiert. Aber das ist es nicht“, sagt Sturm. Es gebe nichts Spannenderes als ein klassisches Stück in moderner Aufführung. Daher ärgere es sie auch, wenn sich ältere Besucherinnen und Besucher nach einer Vorführung über das „neue Theater“ beschweren würden, darüber, dass es nicht „wie früher“ sei. Sturm sagt: „Man darf nicht auf dem Alten beharren. Theater ist lebendig, es entwickelt sich.“

Auswahlkriterien: eigenes Interesse und jahrelange Erfahrung.

In diesem Jahr reisten sieben Mitglieder der Gruppe zu den Ruhrfestspielen. Das Festival hat eine spannende Entstehungsgeschichte, die von Solidarität handelt.

Für die privat organisierte Reise zu den Ruhrfestspielen in Recklinghausen spendiert der IGBCE-Bezirk Darmstadt alle zwei Jahre die Eintrittskarten.
Auch das Kino, bei vielen jungen Menschen angesagter, könne da in puncto Lebendigkeit nicht mithalten. „Das Besondere am Theater ist dieses Live-Moment“, sagt Sturm, „die spezielle Interaktion zwischen den Akteurinnen und Akteuren auf der Bühne und dem Publikum. Die ist bei jeder Aufführung anders, auch bei ein und demselben Stück.“ Wenn sie ein Stück besonders bewegt, sagt sie, gehe sie auch mehrmals hin. Manchmal bis zu fünfmal.
In ihrer Zeit als Event-Managerin bei Merck war Sturm auch Betriebsrätin. „Das Organisieren liegt mir“, sagt sie. Mit ihrem Kultur- und Theaterkreis verbindet sie beides: das Know-how ihres alten Berufs mit der Liebe zum Theater und zur Gewerkschaftsarbeit. Die IGBCE Darmstadt unterstützt sie, indem sie ihr den Mailverteiler zur Verfügung stellt. Über ihn kann Sturm potenzielle Teilnehmerinnen und Teilnehmer für die Ausflüge erreichen.

Im Theater gibt es kein Richtig oder Falsch.
Astrid Sturm,
Gründerin des Theater- und Kulturkreises
Mehr als ein reiner Theaterbesuch
„Dabei weiß man nie, wer sich zu einer Vorstellung anmeldet“, sagt Sturm. Es gebe zwar einen „harten Kern“, der aus rund zehn Leuten bestehe. Nicht selten seien es aber mehr. Neulich musste sie sogar Menschen absagen. Dreißig Leute hatten sich angemeldet, zwanzig konnte sie nur mitnehmen. „Sonst würde ich meinem Anspruch nicht gerecht.“ Insgesamt, schätzt sie, waren in zehn Jahren bislang rund 230 Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit dem Theater- und Kulturkreis unterwegs.
Ein Ausflug mit Sturm ist weit mehr als ein reiner Theaterbesuch. Sie organisiert exklusive Führungen durch die Häuser, Backstage-Gespräche mit Schauspielerinnen und Schauspielern, Regisseurinnen und Regisseuren. Auch Probenbesuche stehen auf dem Programm. „Bei einer Probe wurden unsere Anregungen sogar mit aufgenommen in die spätere Aufführung“, sagt Sturm. „Das war natürlich ein besonderer Moment.“
Wenn die Gruppe zu Vorstellungen außerhalb des Darmstädter Raums geht, bucht Sturm auch Restaurants und Hotels. „Dabei achte ich darauf, dass es so preiswert wie möglich wird“, sagt sie. „Jeder soll sich einen Theaterbesuch leisten können.“ Es ist die Idee von Solidarität, die hinter allem steht.
Aber warum ist ihr Gemeinschaft dabei eigentlich so wichtig? „Es geht um den Austausch. Wenn Menschen nach einem Theaterbesuch schlicht sagen: ‚Das gefiel mir nicht‘, ärgert mich das.“ Man müsse schauen, woran es lag. An den Texten, der schauspielerischen Leistung, dem Bühnenbild? „Die Antworten auf diese Fragen findet man am besten im Gespräch heraus“, sagt Sturm.
Die Menschen, die sie zu den Aufführungen begleiten, sind allesamt Gewerkschaftsmitglieder aus dem Bezirk, mitunter sogar Kolleginnen und Kollegen aus demselben Betrieb. Meist stehe zwar das Stück des Abends, also das konkrete Theatererlebnis, im Vordergrund der Diskussion, sagt Sturm. Bei gesellschaftspolitischen Themen könne es aber auch sein, dass sich die Gespräche schnell um Gewerkschaftliches drehen.
„Theater darf reine Zerstreuung und Unterhaltung sein, gerade in schwierigen Zeiten wie diesen“, sagt Sturm. Persönlich finde sie es aber spannender, wenn sie mit einem Stück „Grund zur Reflexion“ bekomme, wenn sie sich noch Tage später an der Inszenierung „reiben“ könne, wie sie es nennt.

Für Astrid Sturm ist der Besuch im Ruhrfestspielhaus etwas Besonderes: Es war das Ziel ihres ersten Ausflugs mit dem Theater- und Kulturkreis.
Alle zwei Jahre steht etwas ganz Besonderes auf dem Programm: der Besuch der Ruhrfestspiele in Recklinghausen, eine der größten und renommiertesten Theaterveranstaltungen Europas. Für Sturm ein ganz spezielles Event: Ihr erster Gruppenausflug führte sie hierhin. Zudem gibt es eine enge Verbindung zwischen dem Festival und den Gewerkschaften.
Dazu muss man etwas ausholen. Die Ruhrfestspiele entstanden im Nachkriegswinter 1946/1947, einem der härtesten Winter des Jahrhunderts. Die Temperaturen gingen runter bis auf minus 25 Grad Celsius, viele Gebäude waren zerstört, Ressourcen knapp. Die Hamburger Theater standen vor dem Aus – weil sie nicht genügend Kohle hatten, um zu heizen. Zwei Funktionäre, der Verwaltungsdirektor des Deutschen Schauspielhauses Hamburg und der Betriebsratsvorsitzende der Hamburgischen Staatsoper, fuhren mit zwei Lastwagen ins Ruhrgebiet, um die Kumpel um Unterstützung zu bitten. Und die bekamen sie. Die Bergarbeiter der Zeche König Ludwig 4/5 in Recklinghausen luden die Wagen voll. Damit konnten die Hamburger den Spielbetrieb weiterführen. Im darauffolgenden Sommer 1947 revanchierten sie sich: Schauspielerinnen und Schauspieler der drei Hamburger Staatsbühnen traten im Städtischen Saalbau Recklinghausen auf. Das Motto: „Kunst für Kohle“.
Ein Jahr später wurden die Ruhrfestspiele dann offiziell gegründet, als Kooperation zwischen der Stadt Recklinghausen und dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB). Das von nun an jährlich stattfindende Event sollte ein Theaterfestival für alle sein – mit einem Eintrittspreis, der auch für Arbeiterinnen und Arbeiter erschwinglich war.
Es geht um den Austausch.
Astrid Sturm,
Gründerin des Theater- und Kulturkreises
Ein geglücktes Experiment
Diesen gewerkschaftlichen Geist spürt man bis heute. Bei Sturms Theaterkreis, aber auch bei der IGBCE selbst. Bei den alle zwei Jahre stattfindenden Ausflügen zahlt der Bezirk den Eintritt – für die IGBCE-Mitglieder und je eine Begleitperson.
Auch dieses Jahr war Sturm mit ihrer Gruppe in Recklinghausen. Die Inszenierungen standen unter dem Motto „Zweifel und Zusammenhalt“. Sie besuchten ein Stück der Theaterlegende Roberto Ciulli mit Eva Matthes, eine Tanzperformance zu Vivaldis „Die vier Jahreszeiten“ sowie „Zack“, ein Stück mit dem bekannten Schauspieler Wolfram Koch. Drei Tage waren sie vor Ort, von Samstag bis Montag. „Es waren drei ganz unterschiedliche Produktionen, allesamt außergewöhnlich und abseits des Mainstreams“, sagt Sturm. Für sie sei es ein kleines Experiment gewesen. Eines, das glückte. „Die Aussage aller Teilnehmenden war: ‚Es hat sich echt wieder gelohnt.‘“