Video: Warum Marco Hucklenbroich für den Ineos-Standort in Köln einen realistischen Emissionshandel fordert.
Alarm am Rhein
Die IGBCE fordert Reformen beim Emissionshandel und Erleichterungen für energieintensive Industrien. Warum das wichtig ist, zeigt sich beim Besuch des Ineos-Werkes in Köln. Hier droht einem Wohlstandsmotor in Deutschland das Aus – die Umwelt hätte nichts davon.
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Kämpft für die Mitarbeitenden: Betriebsratsvorsitzender Marco Hucklenbroich.
So richtig hektisch wird es nicht. Dabei ist gerade nebenan ein Ofen eines Crackers ausgefallen – in einer von zwei Großanlagen, sogenannten Steamcrackern, mit insgesamt etwa zwanzig Öfen im Kölner Ineos-Werk. In ihnen wird der Erdölbestandteil Naphtha auf rund 850 Grad Celsius erhitzt, wodurch Moleküle aufgespalten werden. Daraus entstehen Grundstoffe für Millionen von Produkten. Schichtmeister Oliver Flächsenhaar steht in der Messwarte, einem fensterlosen Raum voller Monitore und Schalter. Jetzt müssen Flüssigkeiten umgelenkt, Ventile geschlossen, andere geöffnet werden. Ein paar Telefonate, ein paar Klicks seiner Kollegen, dann läuft wieder alles.
Oliver Flächsenhaar leitet das Team der Anlagenfahrer. Die Chemieexperten machen ihren Job gut. Und doch weiß niemand hier, wie lange das Licht bei Ineos in Köln an bleibt. Das Werk und die ganze Grundstoffchemie in Deutschland stehen vor einer ungewissen Zukunft. Denn der Strom ist teuer und die Abgaben durch den Emissionshandel hoch.
Den Standort in Köln direkt am Rhein gibt es seit 1957. Auf den zwei riesigen roten Backsteinschornsteinen sieht man noch die Buchstaben E und C, Erdölchemie, gegründet von Bayer und BP. 2005 übernahm Ineos das Werk mit heute 18 Anlagen. 2.400 Menschen arbeiten hier, der Ineos-Standort ist 200 Hektar groß – so groß wie Monaco. Der Konzern verarbeitet Erdgas, Naphtha und Flüssiggas. Daraus produziert das Unternehmen durch Cracken und andere technische Verfahren pro Jahr rund fünf Millionen Tonnen Basischemikalien, darunter Ethylen, Propylen und Ammoniak. Ohne sie lässt sich kaum ein Produkt auf der Welt herstellen. Und so landen Stoffe aus Köln in Medikamenten und Spritzen, in Elektroautos und Windrädern, in Regenschirmen und Zahnbürsten.
Ordentlich unter Druck: Bei Ineos in Köln sind die Kosten für Energie und Emissionen existenzgefährdend.
Ineos liegt unmittelbar an der Kölner Stadtgrenze, direkter Nachbar ist der Chempark Dormagen. Hier produzieren auch Bayer, Lanxess und andere Großunternehmen. Die bekommen die Ineos-Chemikalien teilweise seit Jahrzehnten durch fest installierte Rohre. „Das ist ein Verbundstandort. Wir hängen alle zusammen – wenn wir fallen, fallen alle, auch die, die nicht CO2- und energieintensiv sind“, sagt Marco Hucklenbroich. Der Betriebsratsvorsitzende, gelernter Elektriker, früher auch am Steamcracker im Einsatz, sagt: „Wir sind hier praktisch ein regionales Unternehmen.“ Denn der Großteil der Ineos-Chemikalien gehe an Kunden in einem Umkreis von 200 Kilometern.
Hucklenbroich kann nicht verstehen, wie die Politik in Berlin und Brüssel eine so wichtige Industrie und zugleich den Beginn einer Wertschöpfungskette sehenden Auges in Gefahr bringen kann. Hucklenbroich: „Unser aller Wohlstand in Deutschland hängt auch am Know-how solcher Werke.“
Die eigentlich gute Idee: der EU-Emissionshandel
Draußen, am Steamcracker Nummer 5, einem Ungetüm aus silbernen Rohren, Herzstück des Werks, erzählt Hucklenbroich, dass Ineos in Antwerpen gerade einen neuen Steamcracker baut. Eine Ausnahme. „Heute würde man die Investition wahrscheinlich nicht mehr auf den Weg bringen“, vermutet er. Das liege vor allem am Emissionshandelssystem. Für die EU ist es eine der wichtigsten Säulen für den Klimaschutz und wesentlich, um das Ziel der Klimaneutralität bis 2050 zu erreichen.
Das Prinzip: Unternehmen müssen für ihre Emissionen Zertifikate kaufen. Die Abgabe soll einen Anreiz bieten, in neue, klimafreundlichere Techniken zu investieren. Energieintensive Branchen wie die Chemieindustrie erhalten aktuell noch teilweise kostenlose CO2-Zertifikate – doch das soll ab dem 1. Januar 2026 schrittweise enden. „Dies kommt einem Ausschalter für diese Industrien gleich“, warnt der IGBCE-Vorsitzende Michael Vassiliadis, der den Ineos-Standort am Rhein gut kennt – hat er doch bei Bayer in Dormagen gelernt, nur ein paar Hundert Meter Rohrleitung vom Ineos-Werk entfernt.
Die IGBCE hat in den vergangenen Monaten auf allen Ebenen versucht, zu erklären, dass hier gerade etwas furchtbar schiefläuft. Matthias Opfinger, in der Gewerkschaftszentrale in Hannover Experte für die Chemiebranche, sagt: „Es macht keinen Sinn, wenn wir in Europa die einzigen sind, die sich ans BWL-Lehrbuch halten.“ Erste Schritte wie der Industriestrompreis würden nicht ausreichen, es brauche noch entschlossenere Maßnahmen. Denn um Transformation voranzubringen, müssen Investitionen getätigt werden – und dafür brauchen die Unternehmen Geld.
Wir hängen alle zusammen – wenn wir fallen, fallen alle, auch die, die nicht CO2- und energieintensiv sind.
Marco Hucklenbroich,
Betriebsratsvorsitzender
Schöne Chemie: die Skyline von Rheinhatten.
Der Strom kostet Unternehmen in Deutschland immer noch etwa doppelt so viel wie im Jahr 2020 – und im Vergleich zu den USA oder Asien ist es das Vier- bis Fünffache. Dazu kommen die aktuell schon mehr als 80 Euro pro Tonne CO2. Wie sich der Preis entwickelt? Offen. Das Werk in Köln ist pro Jahr etwa 200 Millionen Euro teurer als ein baugleiches in den USA. Dazu ist die Nachfrage gering, China ist vom Importeur zum Exporteur geworden. „Unsere Branchen befinden sich gerade in einem perfekten Sturm“, sagte Michael Vassiliadis auf dem IGBCE-Gewerkschaftskongress im Oktober. Immerhin im Bereich Strom ist eine gewisse Erleichterung für die energieintensiven Betriebe zu erwarten: Mitte November einigte sich die Bundesregierung auf die Einführung eines Industriestrompreises in Höhe von fünf Cent pro Kilowattstunde.
Die IGBCE hatte zuletzt eine Debatte über die negativen Auswirkungen der CO2-Bepreisung angestoßen, einen Realitätscheck gefordert – und dafür zunehmenden Zuspruch wichtiger politischer und wirtschaftlicher Akteurinnen und Akteure erhalten. Die Gewerkschaft legt nicht nur den Finger in die Wunde, sie macht auch Verbesserungsvorschläge.
Mit Strom produzieren: noch nicht möglich
Zentrale Forderung eines Initiativantrags des Hauptvorstands auf dem Kongress: Die freie Zuteilung von Zertifikaten solle verlängert werden. Mit dem eingesparten Geld soll in die Standorte investiert werden, unter Beobachtung der Aufsichtsräte und der Betriebsräte. Gemeinsam erarbeitete Transformationspläne sollen Arbeitsplätze und Standorte erhalten und zukunftsfähig machen, Bürokratie soll durch Vertrauen und bewährte sozialpartnerschaftliche Instrumente ersetzt werden.
Außerdem sollte die Transformation ständig beobachtet werden und Industrien sollten vorübergehend aus dem Handel aussteigen dürfen. Nur so könne der Erhalt von Arbeit und Wohlstand mit den Klimazielen in Einklang gebracht werden, heißt es im IGBCE-Papier.
Marco Hucklenbroich hielt auf dem IGBCE-Kongress für Ineos eine viel beachtete Rede. Neben ihm hörte Bundeskanzler Friedrich Merz aufmerksam zu, als Hucklenbroich in vier Minuten mit der deutschen Wirtschaftspolitik abrechnete (siehe Kompass). Auch beim Rundgang durch das Ineos-Werk in Köln ist sein Blick eher frostig, trotz 18 Grad Mitte November, sein Ton ist deutlich.
Konzentration in der Messwarte: Schichtleiter Oliver Flächsenhaar (hinten) und seine Kollegen lösen gerade ein Problem.
Das Problem für die Chemieindustrie und andere Branchen, die viel Energie brauchen und viele Emissionen verursachen: Ihnen fehlen die Alternativen. „Die Technik ist noch nicht so weit“, sagt Hucklenbroich. Gut sichtbar ist das besonders am Steamcracker Nummer 5, um den sich Oliver Flächsenhaar und seine Kollegen kümmern. „Die Cracker sind aktuell nicht elektrifizierbar“, sagt Hucklenbroich. Und selbst wenn man Cracker mit Strom betreiben würde – man bräuchte am Standort unfassbar viel Energie. Beim Gespräch mit Energieversorgern sei klar geworden: Allein die Infrastruktur zu schaffen, würde Jahre dauern. Hucklenbroich: „Das Werk wird mit Abgaben dafür bestraft, dass die nachhaltigere Technik hier noch nicht so weit ist wie etwa in einem Pkw.“ Managementfehler könne man korrigieren, unfaire Vorgaben nicht. Den Beschäftigten drohe die Arbeitslosigkeit. „Ein Anlagenfahrer einer chemischen Großanlage kann nicht morgen bei der Autowerkstatt anfangen.“
Im Gespräch mit den Beschäftigten vor Ort trifft man keine Gegnerinnen oder Gegner des Klimaschutzes. „Die Idee ist gut, die Umsetzung ist einfach nicht realistisch“, sagt Andreas Rieser, einer der Anlagenfahrer von Schichtleiter Flächsenhaar. Niemand wolle den Klimaschutz unterlaufen. Aber so, wie man ihn jetzt betreibe, sei er nicht nur schädlich für Arbeitsplätze und Wohlstand, sondern auch fürs globale Klima selbst. Denn besonders China spüle massenhaft Chemikalien auf den Markt, staatlich subventioniert, mit größerem CO2-Fußabdruck und trotz der Transportkosten viel günstiger als Grundprodukte aus Deutschland. „Die Emissionen werden also nicht vermieden – sie entstehen nur anderswo auf dem Planeten“, sagt Rieser.
In der Messwarte haben die Anlagenfahrer den Überblick, falls es in einer Anlage zu einer Störung kommen sollte.
Für Klimaschutz, aber realistisch
Nun geht also die Angst um im Werk. „Wir haben am Anfang versucht, positiv zu bleiben“, sagt Marco Hucklenbroich. „Mittlerweile kommunizieren wir sehr klar, wie ernst die Lage ist.“ Der Wohlstand einer ganzen Region, ja, eigentlich des ganzen Landes hänge daran, unter welchen Rahmenbedingungen die Industrie arbeiten kann. Am Standort in Köln ist etwa die Hälfte der Beschäftigten schon in die Lehre gegangen. Jetzt werden das erste Mal in fast siebzig Jahren die Azubis am Standort nicht übernommen.
Was man in der Kommandozentrale des Steamcrackers Nummer 5 können muss: ruhig bleiben und auf alles gefasst sein. Das hilft sicher auch bei der wirtschaftlichen Großwetterlage. Schichtmeister Flächsenhaar hat hier die Ausbildung gemacht, schon sein Vater hat im Werk gearbeitet. „Eigentlich wollte ich hier in Rente gehen.“ Doch jetzt fährt der 43-Jährige – wie die gesamte Branche – auf Sicht. „Wenn wir hier irgendeinen Mist herstellen würden, den niemand braucht – ich würd’ ja verstehen, dass man uns loswerden will“, sagt Flächsenhaar. Aber praktisch die ganze Industrie sei auf die Basischemikalien angewiesen. Warum diese Industrie jetzt in die USA, nach China oder in sonst ein Land mit weniger Regeln und günstigerer Energie wandern soll, das versteht er absolut nicht.