Die Lawine stoppen
Die deutsche Industrie kämpft mit CO2-Abgaben und hohen Energiepreisen. Viele Betriebe stehen vor dem Aus. Wie kann die Wende gelingen? Darüber sprachen der IGBCE-Vorsitzende Michael Vassiliadis, Bundeskanzler Friedrich Merz und die Betriebsratsvorsitzenden Ramona Dietrich und Marco Hucklenbroich beim 8. Ordentlichen Gewerkschaftskongress.
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Ramona, du bist Betriebsratsvorsitzende bei Heinz-Glas. Ihr habt rund tausend Beschäftigte und seid bekannt für eure Parfümgläser. In den letzten fünf Jahren gab es bei euch eine Berg-und-Tal-Fahrt: Erst wurde ein Investitionsstopp aufgrund der Energiepreise verhängt, dann ein kompletter Umstieg auf Elektrowannen beschlossen. War die Transformation bei euch erfolgreich?
Ramona Dietrich: Ja, die Transformation bei uns war erfolgreich und hat die richtigen Weichen für die Zukunft gestellt. Angestoßen wurde der Prozess durch den Preisanstieg bei Strom und Gas. Die Geschäftsführung hat sich daraufhin entschlossen, unsere deutschen Glashütten auf Elektroschmelzwannen umzurüsten. Seit September 2024 arbeiten wir nur noch damit. Der dafür benötigte Strom ist CO2-neutral. Wir sind damit Vorreiter in der Branche. Unsere großen Kunden wissen das zu schätzen, denn sie legen großen Wert auf Nachhaltigkeit. Gleichzeitig erreichen wir mit den Elektrowannen unsere eigenen Nachhaltigkeitsziele. Doch damit das Konzept erfolgreich funktioniert, brauchen wir Versorgungssicherheit. Unsere Anlagen laufen rund um die Uhr. Ein längerer Stromausfall würde die Wannen einfrieren und Schäden in Millionenhöhe verursachen. Außerdem benötigen wir stabile und niedrige Energiepreise. Deutschland ist nicht wettbewerbsfähig, solange wir höhere Preise haben als andere Länder. Das gefährdet Arbeitsplätze – in unserer Branche und in der Industrie insgesamt.
Deutschland ist nicht wettbewerbsfähig, solange wir höhere Energiepreise haben als andere Länder.
Ramona Dietrich,
Betriebsratsvorsitzenden bei Heinz-Glas
Ein gelungenes Beispiel, wie Transformation gelingen kann. Unser nächstes Beispiel sieht anders aus: Der britische Chemiekonzern Ineos hat harte Sparmaßnahmen auch an den deutschen Standorten angekündigt. Die Stimmung ist bei den Beschäftigten entsprechend gedrückt. Marco, wie groß ist bei euch noch das Vertrauen, dass Transformation gelingen kann?
Marco Hucklenbroich: Ineos hat sechs Standorte in Deutschland. Einer wird schließen, ein zweiter wackelt gefährlich, an fast allen anderen Standorten werden Anlagen heruntergefahren. Entsprechend haben die Beschäftigten massive Existenzängste, die das Thema Transformation in den Hintergrund drängen. Wo liegen die Probleme? In Köln betreiben wir zwei Cracker. Diese sind CO2- und energieintensiv, also doppelt belastet. Gleichzeitig sind sie Grundstofflieferant für 95 Prozent aller Wirtschaftsgüter – auch für die, welche man für die Transformation braucht. Dazu zählen Materialien für Windkrafträder, Dämmstoffe oder Kabelisolierungen. Darüber hinaus sind unsere Cracker essenzieller Bestandteil eines Verbundstandorts mit verschiedenen Firmen. Wenn wir fallen, reißen wir weitere Anlagen mit – egal ob CO2- und energieintensiv oder nicht. Damit wir wieder positiv in die Zukunft blicken können, braucht es aus meiner Sicht drei Dinge: erstens wettbewerbsfähige Strom- und Gaspreise. Im Vergleich zu einem identischen Standort in den USA haben wir in Köln Mehrkosten von 200 Millionen Euro. So sind wir nicht wettbewerbsfähig. Zweitens benötigen wir Geld für Investitionen. Ineos schreibt in Deutschland rote Zahlen. Investitionen finden derzeit nur in den USA statt. Der letzte Punkt: Technologie. Die Elektrifizierung eines Crackers ist in der Realität noch nicht umsetzbar. Und selbst wenn wir unsere zwei Anlagen elektrifizieren könnten, hätten wir einen Stromverbrauch von einem Terawatt – die dafür nötige Infrastruktur ist nicht vorhanden. Fest steht: Es ist der Punkt gekommen, an dem wir aufhören müssen, zu reden. Es muss etwas passieren. Die Lawine rollt. Politische Maßnahmen müssen sie aufhalten.
Friedrich Merz: An diesen beiden Beispielen sieht man, wie unterschiedlich Transformation im Einzelfall wirkt. In der Glasindustrie ist der Wandel gelungen, mit einer Wertschöpfungskette am Ende und hochpreisigen Produkten. Hier ist der internationale Wettbewerb hart, bei Verbundstandorten in der chemischen Industrie ist er noch mal härter. Deswegen geht es vielen Unternehmen ähnlich wie Ineos. Wir haben uns in der Vergangenheit abhängig gemacht von billigem russischem Gas – das ist seit dem Frühjahr 2024 vorbei. Wir versuchen den Wegfall zu kompensieren und die Strompreise in den Griff zu bekommen. Dafür brauchen wir Erzeugungskapazitäten und eine verlässliche, preisgünstige, umweltfreundliche Energieversorgung. Ich bekenne mich ausdrücklich dazu. Ohne neue Gaskraftwerke werden wir diese Ziele allerdings nicht erreichen. Sich allein auf Wind und Sonne zu verlassen, ist im Augenblick nicht möglich. Dafür fehlen die Speicherkapazitäten. Daneben kann Wasserstoff bisher nicht preisgünstig eingesetzt werden. Wir wollen das perspektivisch ändern, aber es braucht eine Übergangszeit. Denn eine verlässliche Energieversorgung ist gerade für die chemische Industrie von existenzieller Bedeutung. Ich sage das aus tiefster Überzeugung: Wenn wir Industriestandort in Deutschland bleiben wollen, brauchen wir die chemische Industrie und in gewissem Umfang die Stahlindustrie. Deswegen werden wir alles tun, um die Standorte in Deutschland zu halten. Die Energiepolitik steht dabei ganz oben auf der Agenda.
Michael Vassiliadis: In der Glasindustrie kann die Transformation klappen, wenn wir die Energiepreise in den Griff bekommen. Bei Ineos und anderen brauchen wir daneben dringend Klarheit beim CO2-Preis. Es geht dabei nicht darum, den Klimaschutz auszubremsen. Unternehmen müssen jedoch erst überleben können, ehe sie transformiert werden.
Talk mit Betriebsratsmitgliedern: Bundeskanzler Friedrich Merz (Mitte) im Gespräch mit Moderatorin Natalie Mühlenfeld, dem IGBCE-Vorsitzenden Michael Vassiliadis, Ramona Dietrich, Betriebsratsvorsitzende bei Heinz-Glas, und Marco Hucklenbroich, Betriebsratsvorsitzender bei Ineos (von links).
Foto: Christian Burkert
Politische Maßnahmen sind also dringend nötig. Herr Bundeskanzler, warum dauert die Umsetzung so lange und was können Betriebe und Beschäftigte in den nächsten Monaten konkret erwarten?
Merz: Einige Entscheidungen sind bereits am 11. Juli durch den Bundesrat gegangen. Wir haben auch eine ganze Reihe von weiteren Vorhaben im Kabinett beschlossen. Aber es stimmt, eine Demokratie braucht Zeit. Doch lieber machen wir es richtig und sorgen dafür, dass Entscheidungen Bestand haben. Dazu gehört, verschiedene gesellschaftliche Gruppen an den Prozessen zu beteiligen. Trotzdem haben wir keine Zeit zu verlieren. Deswegen dränge ich in der Bundesregierung zu schnellen Entscheidungen. Das Thema Energieversorgungssicherheit ist dabei zentral. In diesem Zusammenhang korrigieren wir die ausschließliche Festlegung auf Wind- und Solarenergie. Dafür braucht es zum Beispiel eine neue Kraftwerksstrategie. Auch der Industriestrompreis fällt darunter. Unser Plan ist, in den kommenden drei Jahren die Kosten für Unternehmen um jährlich 1,3 Milliarden Euro zu senken. Darüber soll nun in den zuständigen Generaldirektionen der EU-Kommission schnell entschieden werden, damit wir zum Jahreswechsel Klarheit haben. Also: Priorität Nummer eins ist die Wiederherstellung einer sicheren, verlässlichen, preisgünstigen Energieversorgung in Deutschland. Da sind wir dran. Ich hoffe, dass es jetzt auch schnell geht.
Priorität ist eine sichere, verlässliche, preisgünstige Energieversorgung.
Friedrich Merz,
Bundeskanzler
Vassiliadis: Ich glaube, die Bundesregierung hat die richtigen Themen erkannt. Und ich finde es wichtig, dass wir über den Weg sachlich diskutieren. So kommen wir weiter, vor allem, wenn wir jetzt noch Geschwindigkeit aufnehmen. Auch in Europa und bei vielen Mitgliedsländern ist das Bewusstsein vorhanden. Sie haben erkannt, dass ihre Industrie nicht funktioniert, wenn es in Deutschland nicht läuft. Die Probleme müssen europäisch angegangen werden, sonst schaffen wir es nicht. Vor uns liegen also wichtige Aufgaben. Über ihre Bewältigung diskutieren wir gern, auch kritisch. Das Wichtigste dabei ist, dass wir im Dialog bleiben. Dann finden wir vielleicht die besten, auf jeden Fall aber gute Lösungen.
Merz: Wir wissen, vor welchen Herausforderungen wir stehen. Wenn wir jetzt in der politischen Mitte zusammenstehen und zeigen, dass Sozialpartnerschaft und Demokratie funktionieren, dann strafen wir all diejenigen Lügen, die behaupten, unsere Demokratie und unser Land funktionierten nicht mehr. Ich mache diesen Job nicht für einen Titel. Ich mache ihn, damit unsere Kinder und Enkelkinder in einigen Jahren zurückblickend sagen: „Das waren schwierige Jahre, aber die Verantwortlichen in Politik, Unternehmen und Gewerkschaften haben im Grundsatz die richtigen Entscheidungen getroffen. Dadurch kann auch die nächste Generation in Freiheit, Frieden und wirtschaftlicher Prosperität leben.“ Das treibt mich an.