Arbeit & Gesellschaft

Kompass

Frag den Michael!

Protokoll Julius Leichsenring – Illustration Eugen Schulz

Foto: Picture Alliance/dpa | Bernd von Jutrczenka

Unsere Mitglieder haben unter großer Beteiligung Fragen an Michael Vassiliadis eingereicht. Im Kompass-Talk beantwortet der IGBCE-Vorsitzende eine breite Auswahl, die wir thematisch gebündelt haben. Alle Fragen konnten wir leider nicht stellen das hätte den zeitlichen Rahmen gesprengt. Es geht um die Zukunft der Industrie, den Rechtsruck in unserer Gesellschaft und eine Ausweitung von Mitgliedervorteilen.

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Wir beginnen mit der Lage der Industrien, zu diesem Punkt haben uns die allermeisten Fragen erreicht. Frank aus Niederalben möchte wissen, was die Gewerkschaft gegen Abwanderung und die schlechter werdenden Arbeitsplatzsituationen unternimmt.

Wir haben in fast allen unseren Branchen eine schlechte, teilweise dramatische wirtschaftliche Lage. Wir waren nie der billigste Standort, aber wir waren effizienter als die anderen – durch Technologieeinsatz und qualifizierte Arbeitskräfte. Nun ändern sich die Rahmenbedingungen fundamental. Das hat mit vielen Faktoren zu tun, auch mit der geopolitischen Lage, etwa der US-Handels- und -Zollpolitik, den hohen Energiepreisen, der Nachfrageschwäche Chinas. Was können wir auf internationaler Ebene dagegen tun? Auf internationaler Ebene haben wir mit den United Steelworkers darüber gesprochen, dass auch sie die Handelspolitik ihrer Regierung kritisch sehen. Sie können möglicherweise in Zukunft Korrekturen erreichen. In der EU-Kommission dringen wir auf Unabhängigkeit und Resilienz unserer Industrien. Dafür brauchen wir zwingend bestimmte Produktionen in Europa, wie Pharma, Chemie, Raffinerien und mehr. Auf nationaler Ebene waren wir gegenüber der Transformationspolitik schon immer kritisch unterwegs. Es geht dabei nicht um die Ziele einer naturverträglichen Produktion, sondern um deren Umsetzung. Die Frage ist, ob die an Unternehmen gestellten Anforderungen leistbar sind. Da sagen wir klar: Nein!

Markus aus Bayern schreibt, es sei „eine Minute vor zwölf“, und fordert eine gigantische Protestaktion in Berlin. Ist das eine Option?

Protest ist zweifellos eine Option. Wir haben damit Erfahrungen: 2015 standen wir mit 30.000 Leuten vor dem Kanzleramt. Protest ist aber nur wirkungsvoll, wenn er ein konkretes Thema anspricht und ein Ziel verfolgt. Egal ob Arbeitszeit, Rente oder Bürgergeld: Die derzeitigen Debatten schüren Bilder, die am Ende den Rechten nützen. Dagegen setzen wir uns geschlossen mit dem DGB zur Wehr. Vielleicht ist mit dem angekündigten „Herbst der Entscheidungen“ der Punkt erreicht, an dem wir unseren Protest auf die Straße tragen.

Frage von Marius aus Saal an der Donau: Wie können wir aus deiner Sicht den Erhalt von Arbeitsplätzen mit einer Neuausrichtung unserer Wertschöpfung in Einklang bringen?

Die Transformationserzählung behauptet: Alles Fossile ist von gestern. Umso schneller wir uns davon abwenden, desto besser. Doch dieser simple Wechsel funktioniert nicht. In Deutschland liegt die industrielle Wertschöpfung bei mehr als zwanzig Prozent. Wenn wir unsere industrielle Basis verlieren, sind unser Sozialstaat und die Finanzierung der Transformation in Gefahr. Das ist der eine Punkt. Der andere: In fast allen Unternehmen in unseren Branchen gibt es Pläne für eine Elektrifizierung mit grünem Strom. Allerdings haben wir nicht genug davon oder es fehlt an Leitungen. Die Frage ist also nicht: Fossil oder nicht fossil? Sondern ob wir die Voraussetzungen für eine gelingende Transformation schaffen. Wir klammern uns sicher nicht an jeden Brocken Kohle. Aber wenn die Transformationsbemühungen aktuell nicht funktionieren wie geplant – und so sieht es im Moment aus –, muss man ja wenigstens darüber reden können, wie es besser laufen könnte.

Wenn wir jetzt nichts unternehmen, werden weitere Unternehmen schließen oder weggehen.

Michael Vassiliadis

Du hast den CO₂-Emissionshandel öffentlich kritisiert. Viele Mitglieder, etwa Alexander aus Hamminkeln, fragen sich, ob Firmen und auch die Politik das als Vorwand nehmen, um nun ihre Klimaschutzmaßnahmen herunterzufahren.

Ich habe nicht den ganzen Emissionshandel infrage gestellt, sondern festgestellt: Der Mechanismus soll Investitionen in eine grünere Produktion erzwingen. Wenn die Voraussetzungen für eine grünere Produktion aber nicht vorliegen oder völlig überteuert sind, dann werden Betriebe zwangsläufig verdrängt. Mein Vorschlag ist deswegen, für einen definierten Kreis betroffener Unternehmen den Mechanismus auszusetzen. Das Geld, das sie sparen, sollen sie nachweislich in konkrete Transformationsmaßnahmen investieren. Wenn wir jetzt nichts unternehmen, werden weitere Unternehmen schließen oder weggehen.

Die Löhne und die Inflationsrate haben sich seit Corona stark auseinanderentwickelt. Wann ändert sich das wieder, fragen Oliver aus Oranienburg und Udo aus Walhorn.

Tatsächlich konnten wir trotz Erfolgen wie Inflationsausgleich und Tarifsteigerungen die Preissteigerungen der letzten Jahre nicht komplett auffangen. Zugleich betrifft die Inflation Kernbereiche des täglichen Lebens: Mieten, Mobilität, Lebensmittel. Das schränkt Freiheitsgrade ein. Und ja, wir verstehen uns hier als Schutzmacht. Trotzdem wollen wir mit unserer Lohnpolitik die Beschäftigung nicht zusätzlich gefährden. In den meisten Branchen ist uns dieser Ausgleich gelungen leider nicht in allen.

Wichtig ist auch das Thema Mitgliedervorteile. Thomas aus Kobern-Gondorf fragt, wann Tariferhöhungen nur noch für Gewerkschaftsmitglieder gelten.

Der Lohn wird natürlich für die geleistete Arbeit bezahlt, nicht für die Gewerkschaftsmitgliedschaft. Insofern haben Mitgliedervorteile rechtliche Grenzen. Trotzdem kann man da noch mehr machen, und das wollen wir auch. Bei den Arbeitgebern treffen wir dabei oft auf ideologischen Widerstand. Zugleich ist die Vorstellung nur bedingt richtig, dass alle in die Gewerkschaft eintreten, wenn wir diese Vorteile nur konsequent umsetzen. Wir müssen insgesamt mehr tun, um den Mehrwert einer Mitgliedschaft aufzuzeigen. Für die Mitglieder ist es ein wichtiger Punkt, Respekt für ihr Engagement zu sehen.

Michael Vassiliadis (rechts) beantwortet in dieser Kompass-Folge Fragen aus der Mitgliedschaft. Hier mit Moderator Lars Ruzic.

Foto: Inken Hägermann

Jana aus Göttingen fragt: Wird es auch in der Chemiebranche eine Viertagewoche geben?

Die Viertagewoche ist ein Marketingknaller, der in der Realität kaum eine Rolle spielt. Die Debatte steht noch ganz am Anfang und muss sowohl unter Belastungs- als auch Organisationsaspekten beleuchtet werden. Eine andere Seite der Arbeitszeitdebatte macht die Politik gerade auf. Die ist respektlos. Es wird so getan, als wären die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer leistungsdefizitär. Ich habe schon viele Politikerinnen und Politiker gefragt, wen sie damit konkret meinen. Eine Antwort gab es nie. Diese Unterstellungen müssen aufhören! Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer können nichts dafür, dass die deutsche Industrie zurückgefallen ist. Stattdessen sollten wir über Produktivitätssteigerungen durch Technologieeinsatz und andere Maßnahmen reden.

Wie schaffen wir es, Friedrich Merz zu zeigen, dass ein Arbeiten bis 67 für viele Kolleginnen und Kollegen unrealistisch ist? Das fragt Daniel aus Neukirchen-Vluyn.

Die Frage bringt es auf den Punkt. Eine erzwungene Verlängerung der Lebensarbeitszeit über 67 ist komplett absurd. Das wäre mit erheblichen Kollateralschäden verbunden, gerade bei so hoch belasteten Tätigkeiten wie Schichtarbeit. Das werden wir als Gewerkschaft nicht akzeptieren. Nur wer länger arbeiten kann und will, soll es tun dürfen. Deswegen finde ich einen Attraktivitätsbonus sinnvoll. Das muss dann natürlich mit dem Rentenrecht synchronisiert werden.

Ralph aus Völklingen möchte wissen: Wie steht die IGBCE dazu, Beamtinnen, Beamte und Selbstständige in die Rentenversicherung einzubeziehen?

Die Rente ist der größte Posten im Sozialhaushalt. Doch das viele Geld führt nicht zu traumhaften Ausschüttungen: Bei einem Durchschnittsverdienst erhält man etwa 1.800 Euro nach 45 Beitragsjahren. Deswegen setzen wir uns für eine solide Ausweitung der betrieblichen Altersversorgungen ein. Eine weitere wichtige Säule ist die private Vorsorge. Allein alle Verbeamteten und Selbstständigen in die Rentenversicherung aufzunehmen, wird die Situation nicht grundlegend ändern. Sie zahlen nämlich nicht nur ein, sie wollen später auch etwas haben und das ist kostspielig. Dennoch bin ich der Meinung, dass man darüber reden muss. Was ich aber für völlig vergiftet halte, wenn daraus ein Generationenkonflikt konstruiert wird. Das Problem sind nicht die Babyboomer, sondern ein unausgeglichenes System.

Wir brauchen an vielen Stellen einen Befreiungsschlag. Denn das Vertrauen in eine gerechte Gesellschaft ist angegriffen.

Michael Vassiliadis

Angesichts des Erstarkens der AfD fragt Stephan aus Gau-Bickelheim: Wie wirken Gewerkschaften auf die anderen Parteien ein, damit diese die Demokratie schützen?

Die Frage, was die Demokratie stabilisiert, ist zentral. Wir brauchen an vielen Stellen einen Befreiungsschlag. Denn das Vertrauen in eine gerechte Gesellschaft ist angegriffen. Vielen Leuten geht es heute schlechter und nur wenigen besser. Populistinnen und Populisten können da beliebig ansetzen und einfache Fingerzeige machen. Außerhalb von Deutschland sehen wir, was die nächsten Schritte sind. Da sind Kräfte unterwegs, die international gut vernetzt sind und zeigen: Hier geht es um die Wurst. Die Sorge, dass man das unterschätzt, teile ich. Wir wollen mit all unseren Mitgliedern darüber in den Dialog gehen. Natürlich auch mit denen, die von dieser Politik angesprochen sind. Aber klar ist: Wir als IGBCE stehen auf der Seite der Demokratie.

Hans-Jürgen aus Lehre fragt: Bist du für ein AfD-Verbotsverfahren und was sagst du zu den Bemühungen von rechten Organisationen wie „Zen­trum“, in die Betriebsräte zu kommen?

Wenn ein AfD-Verbotsverfahren rechtssicher ist, bin ich dafür. Klar ist: Die Partei und ihre Partner bauen systematisch Netzwerke auf, um ihre Machtbasis auszuweiten. „Zentrum“ ist dabei schon länger unterwegs, vor allem im Automobil- und Zulieferbereich. Für ihre Ziele bekommen sie eine Menge Geld, woher auch immer. Entscheidend ist am Ende, wie stark wir selbst sind. Die Einfallstore sind Zwist und Zwietracht. Je geeinter wir als Gewerkschaft auftreten, umso besser hält die Firewall. Gleichzeitig müssen wir attraktiv sein, damit wir uns mit unseren Listen bei den Wahlen weiterhin durchsetzen.

Frage von Martin: Wie kann die Kommunikation mit den Ortsgruppen intensiviert werden?

Wir haben knapp 1.100 Ortsgruppen, die sehr unterschiedlich organisiert und engagiert sind. Es ist nicht möglich, alle persönlich anzusprechen. Die Ortsgruppen sind aber ein wichtiges Zukunftsthema gerade unter dem Aspekt des flexiblen Arbeitens, wodurch Wohnumfeld und Regionalität an Bedeutung gewinnen. Daher streben wir eine aktive Ortsgruppenarbeit an. Alles, was wir in der Hinsicht leisten können, wollen wir gern tun.