Video: Die spannende Gewerkschaftsgeschichte Hannovers.
Schöne Geschichten an der Leine
Hannover ist nicht nur Landeshauptstadt – es ist auch Wiege der IGBCE. Ein Stadtrundgang führt zu den schönsten und spannendsten Orten der Stadt und macht die Geschichte der Arbeiterbewegung lebendig.
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Die heutige IGBCE-Zentrale wurde nach dem Krieg direkt am Cityring, an gut sichtbarer Stelle, erbaut.
Hier kommt einiges zusammen. Am Beginenturm, einem Relikt der Stadtbefestigung, ist Geschichte greifbar – und das moderne Hannover gleich mit. Hier steht die Altstadt mit ihren windschiefen Fachwerkhäuschen. Wobei die wenigsten wissen, dass im Zweiten Weltkrieg fast alles zerstört wurde und die Häuser der Altstadt aus Balken und Steinen der Trümmerhaufen zusammengebastelt wurden. Nur ein paar Meter weiter sieht man Surfende auf der stehenden Leinewelle, die ein Zeichen für das Hannover der Ideen ist. Eine Stadt, die untrennbar mit der Historie der IGBCE verbunden ist.
Heike Linnartz kennt sich aus mit der Geschichte der Stadt und des gewerkschaftlichen Lebens. Sie hat früher bei Bayer in Dormagen gearbeitet, ist trotz Branchenwechsel seit 35 Jahren IGBCE-Mitglied. Als 2006 zur Fußball-WM Stadtführerinnen und Stadtführer gesucht wurden, meldete sich die sprachbegeisterte Frau und zeigt bis heute regelmäßig Besucherinnen und Besuchern mit viel Witz und Wissen ihre Wahlheimat; eine ganz besondere Führung ist die auf den Spuren der IGBCE. „Hannover ist für mich die Liebe auf den zweiten Blick – es dauert etwas, dann ist es sehr schön“, sagt sie.
Die Gruppe, die sie heute durch die Stadt führt, kennt sich aus beim Thema Gewerkschaft und ist auch nicht das erste Mal an der Leine. Schließlich trifft sich der Bezirksvorstand Hannover regelmäßig hier. Es ist dunkelgrau an diesem Montag im September, dann prasselt ein Schauer auf das gläserne Vordach der IGBCE-Zentrale, dem Startpunkt des Stadtrundgangs direkt nach der Sitzung. „Das passt“, sagt einer der Gewerkschafter und lacht. Schließlich sei die Stimmung in den Unternehmen ebenfalls eher grau.
Einblicke beim Stadtmodell im Neuen Rathaus.
Einblicke beim Stadtmodell im Neuen Rathaus (links).
Ein Gewerkschafter putzt den Stolperstein von Willy Scheinhardt.
Gewerkschaft sollte sichtbar sein
Hannover glich 1945 einer riesigen Brachfläche, neunzig Prozent der Gebäude im Innenstadtbereich waren zerstört. Als ein neuer Standort für die IG Chemie-Papier-Keramik gesucht wurde, war für Rudolf Hillebrecht, den prägenden Stadtbaudirektor Hannovers in der Nachkriegszeit, klar: Die Gewerkschaft gehört an prominente Stelle. Und so baute man den Sitz der Gewerkschaft an den neuen Cityring. Selbstbewusst entstand der Bau direkt gegenüber von einem der wichtigsten Arbeitgeber, der Continental AG am Königsworther Platz – die Sozialpartner hatten also direkten Blickkontakt.
Die Conti ist längst raus aus dem Gebäude, hier kann man heute etwa Wirtschaftswissenschaften studieren und auf rund sechzig Metern Höhe im 14. Stock Lesungen besuchen.
Wenige Gehminuten vom Königsworther Platz gelangt die Gruppe zum Klagesmarkt. Er war lange der Ort in Hannover für Aufmärsche und Demonstrationen, hier starteten mutige Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter die letzte große Kundgebung gegen die Nazis im Februar 1933. Heike Linnartz zeigt in Sichtweite des Platzes Fotos des Fotografen Walter Ballhause, der die Hochzeit der Arbeiterbewegung und ihre Bekämpfung durch die Nazis dokumentierte. Heute ist der Klagesmarkt zu einem Großteil bebaut.
Einer der wichtigsten Orte für das gewerkschaftliche Leben in Hannover ist der Tiedthof. Das viergeschossige Gewerkschaftshaus mit seiner Neobarock-Fassade sollte bei seiner Fertigstellung kurz vor dem Ersten Weltkrieg auch ein Zeichen der Stärke sein. Hier hatten viele Einzelgewerkschaften, die SPD und mehrere Einrichtungen wie die Zeitung „Volkswille“ ihre Heimat. Früher als in anderen Städten attackierten SA- und SS-Truppen die Gewerkschaften, besetzten das Haus schon am 1. April 1933. Auch in der Politik ist das Thema bis heute präsent: SPD und Grüne haben gerade im Bezirksrat vorgeschlagen, einen Teil des bisher als Goseriede benannten Platzes künftig in Platz der Gewerkschaften umzubenennen.
Wer oder was war Kröpcke?
Wer vom Tiedthof auf die andere Straßenseite blickt, sieht rechts neben dem Anzeiger-Hochhaus, Gründungsort der Magazine „Stern“ und „Spiegel“, einen gläsernen Flachbau, umrandet von zwei herrschaftlichen Sandsteinbauten. Heute zeigt die Kestner Gesellschaft hier große Kunst. Doch früher war das Gebäude ein öffentliches Badehaus – denn nur in zehn Prozent aller Wohnungen gab es um 1900 überhaupt fließend Wasser.
Auf dem Weg zwischen den Stationen erzählt Heike Linnartz weitere Geschichten, die Hannover ausmachen. Etwa dass nur im Eiffelturm noch ein ähnlicher Schrägaufzug fährt wie im Neuen Rathaus oder dazu, wie der zentrale Platz der Stadt, der Kröpcke, seinen Namen bekam: Denn Wilhelm Kröpcke war kein König, Denker oder Stadtgestalter, sondern ein gut aussehender, charmanter Kellner im damaligen Café Robby in der Georgstraße – und die Hannoveranerinnen und Hannoveraner sagten: „Komm, wir gehen heute zum Kröpcke.“
Kurz hinter dem Kröpcke wird es ernster. Die Gruppe hält am ehemaligen Haus des Fabrikarbeiterverbandes im Schatten der Oper. Das Haus An der Börse 3 ist typisch für Hannovers historistische Architektur um 1900, ein repräsentativer Geschäftsbau der frühen Moderne. Der Fabrikarbeiterverband kaufte das imposante Eckgebäude 1930 – für die Gewerkschaft auch ein Signal: Wir sind da.
Vor der Tür des Hauses holt einer der Gewerkschafter des Rundgangs ein Taschentuch heraus und putzt die Messingplatte, die in den Boden eingelassen ist. Dieser Stolperstein erinnert an Willy Scheinhardt. Als die Nazis das Haus 1933 besetzten, wurde der Gewerkschafter Scheinhardt verhaftet und später im Gefängnis Hildesheim ermordet. Nach dem Krieg startete hier die IG Chemie-Papier-Keramik, heute sitzen in dem geschichtsträchtigen Haus mehrere Unternehmen.
Eine Metalltafel erinnert an die Gründung des Fabrikarbeiterverbandes 1890 in den historischen Gebäuden am Ballhof.
IGBCE-Mitglied Heike Linnartz hat den Gewerkschaftsrundgang entwickelt.
Königliche Sporthalle, Gewerkschaftsort, Schauspielhaus
Der Ballhof ist heute einer der beliebtesten kleinen Plätze der Stadt. Die junge Bühne des Schauspielhauses zieht Kulturinteressierte an, im Teestübchen kann man es sich bei Tee, Kaffee und Kuchen gut gehen lassen. Erbaut wurden die Häuser im 17. Jahrhundert als Ballspielhaus für das höfische „Jeu de Paume“, eine Vorform des Tennis. Und: Hier wurde 1890 der Fabrikarbeiterverband – eine Vorgängerorganisation der IG Chemie-Papier-Keramik – gegründet. Damals wuchsen die Industriezweige, die etwa chemische Produkte, Reifen oder Papier herstellten, rasant. Und deshalb brauchte es eine Interessenvertretung für die ungelernten Arbeiterinnen und Arbeiter. Der Festsaal des Ballhofs war ein wichtiger Versammlungsort der frühen hannoverschen Arbeiterbewegung.
Standort für die neue Gewerkschaft
Als 1997 die neue Industriegewerkschaft IGBCE entstand, war die Frage nach dem Sitz der Hauptverwaltung schnell geklärt. Hannover hatte eine lange Tradition als Zentrum der Arbeiterbewegung. Infrastruktur, Vernetzung und Symbolkraft machten Hannover zum logischen Standort für die neue Gewerkschaft IGBCE.
Zum Ende der Tour klärt Heike Linnartz noch zwei Mythen auf über den berühmtesten Hannoveraner, den Universalgelehrten Gottfried Wilhelm Leibniz. „Leibniz hat vieles erfunden – nur den Keks nicht“, sagt sie und lacht. Und das Haus, das oft als sein Wohnhaus bezeichnet wird, ist ein Neubau aus den 1980er-Jahren mit vorgebauter Fassade. Leibniz hätte es wohl nicht gestört. „Schöne Dinge begehren wir, weil sie erfreulich sind. Ich definiere die Schönheit nämlich als dasjenige, dessen Betrachtung erfreut“, sagte der Gelehrte einst. Das Gebäude gehört zu den meistfotografierten der Stadt.
Guide: Hannover
Sprengel Museum
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Herrenhäuser Gärten
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Neues Rathaus
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Hannovers Wahrzeichen, erbaut 1913. Besuchende fahren mit dem Schrägaufzug in die Kuppel und genießen einen Panoramablick über die Stadt – und sie lernen an vier Modellen viel über die Stadtentwicklung.