Video: Was die Schließung zweier Anlagen von Dow für die Standorte in Böhlen, Schkopau und die Region bedeutet.
Chemie ohne Herz
Der Chemiekonzern Dow will bis Ende 2027 mehrere Anlagen in Böhlen und Schkopau schließen. Die Pläne treffen das Chemiedreieck Mitteldeutschland mitten ins Herz. Ein Besuch am Crackerstandort in Sachsen, wo die Beschäftigten auf eine „Wende 2.0“ hoffen.
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Die Betriebsratschefs Dieter Macke (links) und Andreas Zielke kämpfen gemeinsam für den Erhalt der Dow-Anlagen in Böhlen und Schkopau.
Es zischt über der Chemieanlage südlich der Stadt Böhlen. Für die Mitarbeitenden ist das Geräusch ein Zeichen für schwierige Zeiten. Direkt vor den Toren von Leipzig produzieren sie aus Rohbenzin die Grundstoffe für Plastik, Lösungsmittel und Lacke – in fünf Schichten, rund um die Uhr, an 365 Tagen im Jahr. Dafür braucht es viel Wasserdampf. Ist die Anlage nicht ausgelastet, entweicht der Dampf als weiße Wolkensäule mit einem lauten Zischen. Genau das passiert in Böhlen seit vielen Monaten, weil dampfintensive Produktionen am Standort bereits abgeschaltet sind und zurückgebaut werden.
Betreiber des Steamcrackers in Böhlen ist der US-amerikanische Chemieriese Dow Chemical. Der Konzern hat im April angekündigt, nun den gesamten Cracker und die nachgelagerte Aromaten- und Butadienproduktion am Standort auf den Prüfstand zu stellen. Anfang Juli verkündete der Konzern dann die Hiobsbotschaft: Ende 2027 soll für die Anlagen Schluss sein. „Das ist eine große Katastrophe“, sagt Andreas Zielke. Der Vorsitzende des Betriebsrates in Böhlen blickt aus dem Fenster seines Büros. Von dort schaut er auf die Anlage: Unzählige Rohrleitungen winden sich auf Trassen entlang des Areals, auf dem 560 Fußballfelder Platz finden würden. Silberne Schornsteine wachsen in die Höhe. Ein Geflecht aus grauen Leitungen legt sich wie ein Spinnennetz um Metallbehälter. „Das würde im schlimmsten Fall dem Erdboden gleichgemacht werden.“ Übrig blieben eine Anilinproduktion für Schaumstoffe und ein Bürogebäude für die Verwaltung.

Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter steuern den Steamcracker vom Leitstand aus – in fünf Schichten, rund um die Uhr. Ihre Zukunft? Ungewiss.
Versäumnisse der Politik
Hintergrund der Entscheidung ist nicht nur die Auslastung der Anlage. Es ist unter anderem eine Kombination aus globalen Entwicklungen und politischen Versäumnissen.
Da sind einerseits die hohen Energiekosten. Hierzulande sind laut Deutscher Industrie- und Handelskammer die Gaspreise fast siebenmal und die Strompreise bis zu fünfmal so hoch wie in anderen Ländern. Energieintensive Industrien wie die Chemie verlieren dadurch den Anschluss an den internationalen Wettbewerb.
Deshalb setzt sich die IGBCE seit 2022 für einen fairen Industriestrompreis ein. Die schwarz-rote Bundesregierung möchte ihn nun schnellstmöglich einführen. Für den Standort Böhlen kommt er zu spät. „Die Ampel hätte viel eher die Energiepreise für die Unternehmen senken müssen. Die alte Regierung hat sich in einer für uns wirtschaftspolitisch existenziellen Situation nur noch mit sich selbst beschäftigt. Sie war zuletzt handlungsunfähig und ist ihrer Verantwortung nicht mehr nachgekommen“, sagt Stephanie Albrecht-Suliak, Landesbezirksleiterin Nordost der IGBCE.
Neben innenpolitischen Gründen sind es auch geopolitische Entwicklungen: China flutet wegen der eigenen schwachen Konjunktur und verstärkt durch die Zollpolitik Trumps den europäischen Markt mit Produkten. Darunter: Ethylen, ein Vorprodukt für Kunststoffe und einstiges Zugpferd des Standorts Böhlen. Geld lässt sich damit jetzt nicht mehr verdienen.
Schock für die Belegschaft
Diese verhängnisvolle Mischung aus geringer Nachfrage und hohen Kosten trifft auch die Chlor-Alkali- und die Vinyl-Produktion von Dow in Schkopau. Nach den Plänen der US-Zentrale sollen die Anlagen ebenfalls Ende 2027 vom Netz gehen. „Wir haben keine nennenswerte Kundschaft mehr vor Ort“, sagt Dieter Macke, Betriebsratschef an dem Standort in Sachsen-Anhalt und Gesamtbetriebsratschef von Dow in Mitteldeutschland. Als Beispiel nennt er die Hersteller von Fenstern und Türen aus PVC. Das Ausgangsprodukt für diesen Kunststoff, Vinylchlorid, wird in Schkopau hergestellt. Die nächstgelegenen potenziellen Abnehmer sitzen in Ägypten, Indien und der Türkei. Der Weg ist zu weit, die Konkurrenz zu groß. „Der Export lohnt sich nicht mehr“, sagt Macke.
In Schkopau bangen mehr als hundert Menschen um ihre Jobs. In Böhlen sind 500 von insgesamt 680 Dow-Beschäftigten von den Plänen des Managements betroffen. Alles tarifgebundene, gut bezahlte Arbeitsplätze. Im Osten Deutschlands eher eine Seltenheit.
Dieser Standort ist ein Stück meines Lebens.
Andreas Zielke,
Vorsitzender des Betriebsrates in Böhlen
Wer hier bei Dow arbeitet, bleibt meist bis zur Rente. Das war auch der Plan des Böhlener Betriebsratschefs Zielke. Aufgewachsen im Nachbarort Pegau, arbeitete der heute 58-Jährige schon in den Schulferien im Werk. Zu DDR-Zeiten hieß es VEB Otto Grotewohl Böhlen. Nach der Wende steckte der Staat 9,5 Milliarden D-Mark in die Modernisierung der Anlagen aus den 1960er- und 1970er-Jahren. Mit Erfolg: Dow übernahm die Produktion, 2001 schrieb der Standort zum ersten Mal schwarze Zahlen. Danach folgten Jahre des Booms. Es gab Pläne, einen zweiten Cracker zu errichten.
„Nach dem tiefen Tal ging es bergauf“, sagt Zielke. Er hat die damalige Transformation nicht nur miterlebt, sondern mitgestaltet. Kurz nach dem Mauerfall baute er den ersten Betriebsrat auf; 1995 übernahm er dessen Vorsitz. „Dieser Standort ist ein Stück meines Lebens“, sagt er.
Als im April die Nachricht von der drohenden Schließung die Runde machte, ging eine Schockwelle durch ihn und die Belegschaft. „So tiefe Einschnitte hatten wir nicht erwartet“, sagt Zielke. „Der Schmerz sitzt tief. Im Moment wird alles, was wir über die Jahre aufgebaut haben, infrage gestellt.“
Zentrum des Chemie-Clusters
Nicht nur die Belegschaft am Dow-Standort Böhlen ist von der drohenden Stilllegung des Crackers betroffen. Auch bei anderen Firmen droht ein Abbau. Im Raum stehen 1.500 bis 2.000 Stellen. Denn der Cracker ist das Herzstück des Chemiedreiecks Mitteldeutschland, das aus den Produktionszentren Leuna, Bitterfeld-Wolfen, Schkopau/Böhlen, Schwarzheide und Zeitz besteht. Etwa 30.000 Menschen arbeiten in der Region in fast 600 Unternehmen. Viele der Unternehmen sind über Pipelines mit dem Steamcracker verbunden. Durch diesen Stoffverbund erhalten sie auf schnellem und günstigem Weg Grundstoffe für ihre Produktion – darunter Polypropylen für Plastikbecher, Styrol für Dämmplatten und Synthesekautschuk für Reifen. Wird der Steamcracker heruntergefahren, bricht ihre direkte Bezugsquelle weg. Die Folge: steigende Kosten, geringere Wettbewerbsfähigkeit. Darüber hinaus sind Zulieferer sowie Betreiber von Pipelines, Energie- und Dampfnetzen und Tanklagern betroffen.
Ein Dominoeffekt droht – auch in Schkopau. Die vor dem Aus stehenden Anlagen sind Teil des Chemieparks Valuepark mit etwa dreißig Firmen. Sie teilen sich die Kosten für die Energieversorgung, die Wasseraufbereitung und die Werkfeuerwehr. Fällt ein Betrieb aus, steigen die Belastungen der anderen. Die zusätzlichen Ausgaben könnten gerade in Zeiten einer schwächelnden Konjunktur einzelne Unternehmen überfordern.
Steamcracker
Steamcracker zählen zu den größten und wichtigsten Einzelanlagen in der chemischen Industrie. Mit ihrer Hilfe werden lange Kohlenwasserstoffketten in kürzere Verbindungen gespalten. Zum Einsatz kommt dafür Dampf, der mit großem Energieaufwand auf 800 bis 850 Grad Celsius erhitzt wird. Daher der Name Steamcracker, auf Deutsch Dampfspalter.
Die in Böhlen betriebene Anlage setzt wie die meisten Cracker in Europa auf Naphtha als Ausgangsstoff. Dieses wird in Raffinerien aus Rohöl gewonnen. Während des Spaltprozesses im Steamcracker entstehen daraus Ethylen, Pyrolysebenzin, Propylen, Methan, Buten, Butadien und andere Stoffe. Sie bilden die Basischemikalien für Kunststoffe, Lösungsmittel, Lacke und viele weitere alltägliche Produkte. So wird aus mehreren Ethenverbindungen Polyethylen. Der Kunststoff umgibt uns überall – in Form von Müllsäcken, Flaschen, Isolierungen von Häusern und Verkleidungen von Autotüren.
Für Zielke ist das, was gerade in Sachsen und Sachsen-Anhalt passiert, Vorbote einer drohenden Deindustrialisierung im ganzen Land. „Zuerst wackelt der Osten, dann bebt die Republik.“ Das sieht Stephanie Albrecht-Suliak von der IGBCE ähnlich: „An vielen Stellen wird die Wettbewerbsfähigkeit von Deutschland infrage gestellt. Anders als in vorherigen Krisen – der Finanzkrise oder der Pandemie – werden Instrumente zur Überbrückung und zum Erhalt der Beschäftigung wie Kurzarbeit und Tariföffnungen gar nicht mehr nachgefragt. Unternehmen kommen sofort mit der Schließung von Anlagen oder Standorten daher. Der Osten als nach wie vor verlängerte Werkbank ist davon besonders betroffen.“ Die IGBCE stemmt sich mit aller Macht dagegen.
Sichtbarkeit und Solidarität
Bei Dow hat die Gewerkschaft die „Never let me DowN“-Kampagne ins Leben gerufen. Im Chemiepark Böhlen sind die roten Motive mit weißem Schriftzug und der Raute des Dow-Logos allgegenwärtig. Sie hängen als großflächige Plakate auf dem Weg zum Werk, im A4-Format über den Werkbänken der Instandhaltung, als Postkarten in den Fenstern der Mitarbeitenden. Bei einer Kundgebung vor den Werkstoren mit dem IGBCE-Vorsitzenden Michael Vassiliadis klebten sich die rund 700 Teilnehmenden einen „Never let me DowN“-Sticker auf ihre Schutzhelme. „Es geht um Sichtbarkeit. Es geht um Solidarität. Es geht um Identifikation“, sagt Albrecht-Suliak. „Die Beschäftigten sind nicht allein. Die IGBCE steht hinter ihnen und kämpft um jeden einzelnen Arbeitsplatz.“

Wir arbeiten lieber an der Zukunft.
Andreas Zielke,
Vorsitzender des Betriebsrates in Böhlen
Das geschieht im Schulterschluss mit den Betriebsräten vor Ort und der Landespolitik. Ministerpräsident Reiner Haseloff war in Schkopau, Sachsens Wirtschaftsminister Dirk Panter in Böhlen. Eine länderübergreifende Arbeitsgruppe aus Ministerien, Landräten und den Sozialpartnern tagt regelmäßig. Denn fest steht: Ähnlich wie nach dem Ende der DDR braucht es von allen Seiten enorme Kraftanstrengungen, um den Standort vor dem Untergang zu retten. Zielke spricht von einer „Wende 2.0“.
Was das genau heißt, daran arbeitet er gemeinsam mit Macke und einer Unternehmensberatung. Denkbar ist ein Verkauf des Crackers an einen Zusammenschluss aus Zulieferern oder Abnehmern. Auch eine Neuausrichtung in Richtung Wasserstoff wird in den Blick genommen. „Wir müssen den Menschen vor Ort wieder Hoffnung geben. Die Kolleginnen und Kollegen erwarten etwas von uns“, sagt Zielke. „Es bringt nichts, Groll auf Dow zu hegen. Wir arbeiten lieber an der Zukunft.“