Faul oder nicht faul?
Die Debatte um Arbeitsmoral und Arbeitszeit ist hitzig. Braucht es eine neue Mentalität, damit Wohlstand erhalten bleibt? Oder lenken markige Sprüche von den eigentlichen Problemen ab? Darüber sprechen der IGBCE-Vorsitzende Michael Vassiliadis und der Arbeitsmarktforscher Enzo Weber im Kompass-Talk.
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Bundeskanzler Friedrich Merz sagte kürzlich: „Mit Viertagewoche und Work-Life-Balance werden wir den Wohlstand unseres Landes nicht erhalten können.“ Müssen wir wieder mehr arbeiten?
Enzo Weber: Wir haben ein demografisches Problem. In 15 Jahren haben wir rein aus Alterungsgründen sieben Millionen Arbeitskräfte weniger. Mehr arbeiten ist also eine gute Idee. Allerdings muss an den richtigen Stellen angesetzt werden. Wir haben eine der höchsten Erwerbsquoten in Europa. Das Arbeitsvolumen ist heute so hoch wie noch nie. Das Problem sind also nicht die angeblich Faulen. Sondern es liegt da, wo Erwerbskarrieren von Frauen in der Familienphase abknicken, bei den Minijobbenden, Arbeitslosen und Zugewanderten: Viele von ihnen werden ausgebremst, sodass „Work“ nicht in der Balance ist. Mit einer echten Work-Life-Balance würden wir den Wohlstand in unserem Land steigern.

Foto: Michael Bode
Enzo Weber, geboren 1980, ist seit 2011 Leiter des Forschungsbereichs Prognosen und gesamtwirtschaftliche Analysen am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) und zudem Lehrstuhlinhaber an der Universität Regensburg. Der promovierte Volkswirt ist Arbeitsmarktforscher, Makroökonom, Prognostiker und Ökonometriker. Er berät nationale und internationale Regierungen, Parlamente, Institutionen, Parteien und Verbände.
Michael, wie bewertest du das Zitat von Bundeskanzler Merz?
Michael Vassiliadis: Wir haben ernste Probleme in diesem Land. Deutschland muss sich entscheiden, wohin es möchte. Darauf müssen wir mit sachlichen Diskussionen reagieren, nicht mit fortgesetztem Wahlkampf. Ich kann daher gut verstehen, dass viele den Satz respektlos finden. Er sagt pauschal, dass alle zu faul sind, um an der Zukunft Deutschlands mitzuarbeiten. Das stimmt so nicht. Was soll ein Schichtarbeiter dazu sagen, der in einem 24/7-Betrieb arbeitet? Die wirklich interessante Frage ist doch, wie die Produktivität wieder steigt. Das ist unser Erfolgsfaktor, denn wir waren noch nie ein billiger Standort. Darüber können wir reden, statt die Debatte „Wo steht Deutschland?“ bei den Beschäftigten abzuladen. Der zweite Punkt: Es braucht mehr Köpfe in Arbeit – durch eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf, durch Bildung und durch eine klare Strategie bei der Zuwanderung.
Im Koalitionsvertrag steht, dass die tägliche Höchstarbeitszeit durch eine wöchentliche ersetzt werden soll. Herr Weber, Sie haben zu den geplanten Maßnahmen der Regierung eine Befragung unter Beschäftigten durchgeführt. Was sind die Ergebnisse?
Weber: Wir haben uns die geplanten Maßnahmen zur Arbeitszeit genauer angeschaut, weil wir weg müssen von allgemeinen Aussagen hin zu konkreten Instrumenten. Wie schaffen wir es also, die Arbeitsstunden auch im Sinne der Beschäftigten zu erhöhen und die Produktivität nach oben zu bringen? Wenn wir beispielsweise die Zehn-Stunden-Grenze pro Tag abschaffen, gibt das mehr Flexibilität. Andererseits führen lange Arbeitstage zu gesundheitlichen Problemen und mehr Fehlern. Unsere Befragung zeigt: 34 Prozent wären bereit, an einzelnen Tagen mehr als zehn Stunden zu arbeiten. Gleichzeitig befürworten 73 Prozent klare Grenzen. Am Ende kommt es darauf an, wer die Flexibilität steuert – die Beschäftigten oder der Betrieb. Meine Schlussfolgerungen: Wenn die Zehn-Stunden-Grenze fällt, brauchen wir zwingend einen Ausgleich durch Gesundheitsschutz und Gesundheitsmonitoring plus einvernehmliche Vereinbarungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmenden.
Mit einer echten Work-Life-Balance würden wir den Wohlstand in unserem Land steigern.
Enzo Weber,
Forschungsbereichsleiter am IAB
Michael, drohen durch die Auflösung der täglichen Höchstarbeitszeit Gefahren für den Arbeits- und Gesundheitsschutz?
Vassiliadis: Die Erkenntnisse des Arbeitsschutzes kann man nicht einfach vom Tisch wischen, auch wenn wir demografisch und wirtschaftlich unter Druck stehen. Beim Arbeiten unter Volllast ist bei vielen die Grenze nach spätestens acht Stunden erreicht. Mit einer Erhöhung der Arbeitszeit gehen deswegen gesundheitliche Probleme und Leistungsverluste einher. Davon hat niemand etwas. Außerdem würde eine Änderung der Höchstarbeitszeiten die Belegschaften spalten: In den tarifgebundenen Bereich – hier ist nicht das Gesetz, sondern der Tarifvertrag maßgeblich – und in den prekären Bereich ohne Tarifbindung. Die, die heute schon ausgebeutet werden, hätten es dann noch schwerer, sich zu wehren. Deshalb ist der Vorschlag leichtfertig. Das heißt nicht, dass es nicht flexible Regelungen geben kann. Im Betrieb meines Vaters gab es Sonntage mit Zwölf-Stunden-Schichten. Das gibt es heute noch. Die flexible Gestaltung der Arbeitszeiten unter gesundheitlichen und qualitativen Aspekten liegt im Kernbereich von Gewerkschaften.

Michael Vassiliadis (links) im Gespräch mit Enzo Weber und IGBCE-Expertin Katrin Locker, die den Talk moderierte.
Foto: Markus Köpp
Die Regierung will zudem Zuschläge zu Überstunden steuerfrei stellen. Verfängt dieser finanzielle Anreiz?
Weber: 45 Prozent der Vollzeitbeschäftigten wären dann bereit, mehr Überstunden zu leisten. Die bezahlte Überstunde gibt es aber tatsächlich immer weniger. Mittlerweile haben etwa 40 Prozent der Beschäftigten Arbeitszeitkonten; 14 Prozent der Vollzeitbeschäftigten haben die Möglichkeit, Überstunden zu leisten und sich diese mit Zuschlägen auszahlen zu lassen. Das Instrument würde also nur einen kleinen Teil erreichen und gleichzeitig hohe Mitnahmeeffekte erzeugen. Außerdem kann es nur auf Vollzeitbeschäftigte angewendet werden. Das sind in der Regel Männer. Wenn die noch mehr arbeiten, werden Frauen in vielen Fällen weiter ausgebremst. Dabei liegen bei den Frauen die Potenziale – nicht nur, was die Anzahl der Stunden, sondern auch die berufliche Weiterentwicklung angeht.
Vassiliadis: Überstunden sind bei uns in den Tarifverträgen geregelt. Und dafür gibt es Zuschläge. Die sind zum Teil jetzt schon steuerfrei, zum Beispiel im Schichtbereich. Die Frage ist, was möchte man fördern? Ein gut bezahlter Facharbeiter zahlt ordentlich Steuern. Eine Entlastung wäre nicht unattraktiv. Doch der Vorschlag der Politik ist nicht zu Ende gedacht. Er steht nämlich im Konflikt mit Arbeitszeitkonten. Wollen wir diese abschaffen? Daneben haben wir das Thema der Entgrenzung der Arbeit. Das ist häufig im außertariflichen Bereich der Fall. Es gibt deswegen ganze Heerscharen an Menschen, die statt mehr Geld im Monat lieber in den Tarif gehen. Insofern muss die Frage beantwortet werden: Wie viel kann ein Mensch überhaupt leisten?
Gleichzeitig sollen Anreize geschaffen werden, damit Teilzeitbeschäftigte ihre Stunden aufstocken. Hilft das?
Weber: Die eigentlichen Probleme werden damit nicht angegangen. Trotzdem gibt es Potenziale: 33 Prozent der Teilzeitbeschäftigten würden bei einer steuerfreien Prämie ihre Stundenzahl dauerhaft ausweiten. Besonders groß ist die Bereitschaft bei niedrigen Arbeitszeiten. Meine Empfehlung wäre deswegen, besonders starke Anreize für den Übergang vom Minijob in eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zu setzen und das mit einer Informationskampagne und einer Initiative zur Lohntransparenz zu flankieren.
Wir brauchen eine klare wirtschaftliche Erneuerungspolitik.
Enzo Weber,
Forschungsbereichsleiter am IAB
Ist der Fokus auf die Arbeitszeit überhaupt sinnvoll? Müssen wir nicht viel stärker auf eine effizientere Produktion schauen?
Vassiliadis: Ja und nein. Wir müssen die wirtschaftlichen Herausforderungen annehmen. Dazu gehören auch die Arbeitszeit, die Arbeitsqualität und die Qualifizierung. Gewerkschaften sind dafür da, diese Punkte vernünftig zu gestalten. Auf der anderen Seite sind unsere Unternehmen bei der Digitalisierung verzögert und die Infrastruktur ist marode. Da sind Produktivitätseffekte in der Vergangenheit liegen gelassen worden. Was es wieder braucht, ist ein positives Verständnis von Produktivitätsfortschritt. Denn durch die technologische Entwicklung steigt die Arbeitsqualität und die Arbeitsbelastung nimmt ab.
Weber: Die Investitionen und die Produktivität sinken seit Jahren. Wir brauchen eine klare wirtschaftliche Erneuerungspolitik. Fachkräftesicherung ist dabei enorm wichtig. Gleichzeitig ist die menschliche Zeit begrenzt. Technologie sowie das Potenzial, die Kreativität und die Entwicklung der Menschen sind es nicht. Politik muss daher die Unsicherheiten für Investoren sowie Beschäftigte reduzieren und in die Infrastruktur der Zukunft investieren. Fachkräftesicherung, Kompetenzentwicklung und Transformation sind Teil desselben Pakets. Ein reiner Fokus auf die Arbeitszeit ist zu eng. Aber sie kann Teil eines Gesamtpakets sein, das Hürden abbaut und Potenziale hebt.
Die „Faulheitsdebatte“ ist also eine Scheindebatte.
Vassiliadis: Wir müssen endlich das nötige Niveau in die Debatte bringen. In den nächsten Jahren entscheidet sich, ob unsere Zukunft auf den Stärken Deutschlands aufbaut. Dafür müssen Begriffe wie Transformation konkret werden. Wir können diese Dinge besser besprechen und haben das in der Vergangenheit auch besser gemacht. Das hat damit zu tun, dass Investitionen nicht in konkrete Roadmaps gepackt wurden. Dafür wird es höchste Zeit. Es ist nicht zu spät, aber es ist Dampf auf dem Kessel.
IGBCE Kompass: Den Polit-Talk mit Michael Vassiliadis und Gast kannst du in voller Länge nicht nur in der digitalen Ausgabe dieses Magazins hören, sondern auch über die „Meine IGBCE“-App, im Web bei igbce.de sowie auf dem Youtube-Kanal deiner Gewerkschaft anschauen. Außerdem findest du den Talk auf allen gängigen Podcast-Plattformen. Dort lässt er sich auch leicht abonnieren.